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Spinozas Religionskritik

30. Dezember 2016

spinoza_tractatus_theologico-politicus

Faksimile der Erstausgabe des TTP 1670.

Spinoza holds the view that interpreting the Bible is identical with the method of interpreting nature. The reading of the book of nature consists in inferring the definitions of natural things from the data supplied by ‘natural history’. In the same way, the interpretation of the Bible consists in inferring the thought of the biblical authors, or the definitions of the biblical subjects qua biblical subjects from the data supplied by the ‘history of the Bible’.

Leo Strauss, How to study Spinoza’s Theologico-Political Treatise

 

Seit sich der politische Islam als Kraft von Bedeutung in die Diskurse westlicher Gesellschaften gedrängt hat, ist viel von Aufklärung und der europäischen Tradition der Religionskritik die Rede. Aber wie mir scheint wird hier von gemachten Tatsachen ausgegangen, deren konkrete Geschichte entweder unbekannt ist oder sich zu sehr in Diskussionen fachorientierter Spezialisten bewegt. Dieser Beitrag soll, so unakademisch wie das möglich ist, den geneigten Leserinnen und Lesern näher bekannt machen, wie die europäische Religionskritik durch das Werk Baruch de Spinozas (1632-1677) begann und mit welchen Widerständen sie zu kämpfen hatte. Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass in diesem Kontext und innerhalb dieses Mediums Verkürzungen und Auslassungen eher die Regel sind und daher konstruktive Kritik dies berücksichtigen sollte.

Spinoza gehört zu den Unbekannten der Philosophiegeschichte. Obwohl man ihn in jeder Ahnengalerie findet und er häufig erwähnt wird, kennt doch kaum jemand den Inhalt seiner Schriften. Während man von seinen Zeitgenossen Leibniz und Newton in der Schule lernt, dass sie unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung erfunden haben, oder von Hobbes weiß, dass er in seinem Buch „Leviathan“ vom „Krieg aller gegen alle“ gesprochen hat, kann von Spinoza kaum etwas Vernünftiges gesagt werden, das nicht heftiges Rätselraten auslöst. Es ist daher nützlich sich mit den Umständen und der historischen Wirklichkeit zu beschäftigen, in der Spinoza gelebt hat.

Holland ist zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Zentrum der bekannten Welt und Amsterdam gilt als wichtigste Hauptstadt Europas. Holland ist ein zu dieser Zeit politisch sehr instabiles Land im Brennpunkt konkurrierender Großmächte. Vom Land her von Spanien und den Habsburgern bedroht, zur See im Wettbewerb mit den Engländern und allen anderen seefahrenden Großmächten, vor allem Portugal und Spanien. Habsburgische Ansprüche und katholische Gegenreformation sind Faktoren für Unruhe und konfessionelle Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten drohen jederzeit in offenen Bürgerkrieg auszubrechen. Die sieben Provinzen werden Ende des 16. Jahrhunderts zum Vereinigten Königreich Niederlande zusammengefasst und entgehen dadurch den Massakern des 30-jährigen Krieges, der Deutschland so entsetzlich verwüstet.

Die holländischen Kaufleute vereinigen 1602 ihre Kräfte, als die Holländische Ost-Indische Gesellschaft gegründet wird, ein zunächst noch loser Zusammenschluss von Reedern, Bankiers, Handelsgesellschaften, aristokratischen Politikern und Schiffsbauern. Immanuel Wallerstein hat die Geschichte dieses ersten globalen Konzerns in seinem dreibändigen Werk „Das moderne Weltsystem“ in Band II ausführlich beschrieben.

In diesem Klima entstand in Holland die modernste Gesellschaft ihrer Zeit. Die Modernisierung Hollands verdankt sich einer intensiven Migration, die von einer äußerst integrationsfreudigen Bevölkerung empfangen wurde und kein besonderes Augenmerk auf religiöse Bekenntnisse nahm. Jeder war willkommen, solange die Neuankömmlinge auf politische Agitation verzichteten. Holland sammelte die technische Intelligenzija Europas auf, um die besten und widerstandsfähigsten Schiffe zu bauen. Schiffe, die es bis Japan und den Südpazifik und – ökonomisch bedeutsam – auch wieder zurück schafften.

Durch ein ausgeklügeltes System hochgradiger Arbeitsteilung stellen holländische Werften in kurzer Zeit Schiffe von gleich bleibender Qualität her. Als Peter der Große Russland zur Seemacht ausbauen will, holt er holländische Schiffsbauer nach Russland und siedelt sie in der Nähe von St. Petersburg an.

Während die großen europäischen Kolonialmächte Spanien, England, Frankreich und Portugal den amerikanischen Kontinent unter sich aufteilten, wurde das technologisch hoch entwickelte Holland zu Englands einzigem ernsthaften Konkurrenten auf See. Der einzige ernsthafte Konkurrent der Holländischen Ost-Indien Gesellschaften war deshalb auch die Britische Ost-Indien Gesellschaft, die nur wenig später gegründet wurde. Durch die Mobilität und Schnelligkeit seiner Flotte erarbeitete sich das Königreich Holland seinen Reichtum mit Schiffen, die hin und wieder zurück kamen, wo andere scheiterten. Dieser Vorteil kam ganz besonders beim Gewürzhandel zum Tragen, der nur durch den Zugang zu schwer erreichbaren Inseln und Archipelen möglich war. Der im Lauf der nächsten drei Jahrhunderte erwirtschaftete Reichtum der Holländischen Ost-Indischen Gesellschaft wurde einerseits durch ein Monopol auf bestimmte Gewürze, im Besonderen die Muskatnuss, zu Wege gebracht, andererseits konnten die holländischen Schiffe ihren Frachtraum an alle anderen Seemächte vermieten, weil Holland meistens neutral war.

Historisch dominiert im 17. Jahrhundert der Krieg zwischen den Konfessionen. Während Deutschland durch die entsetzlichen Massaker des 30-jährigen Kriegs auf Jahrhunderte in seiner Entwicklung zurück geworfen wird, kann sich das Königreich Holland vor den schlimmsten Folgen schützen. Trotzdem bekämpfen sich Katholiken und Protestanten auch in Holland aufs Schärfste. Einig sind sie sich bloß in der Verfolgung agnostischer und atheistischer Zeitgenossen.

Wissenschaftliche Entdeckungen und Neuerungen prägen das Jahrhundert nachhaltig. Galileo Galilei (er stirbt 1642) und seine empirischen Beweise der heliozentrischen Sichtweise Keplers setzen sich bei allen Gebildeten Europas und auch der Katholischen Kirche durch. Der Streit Galileis mit dem Vatikan hatte anders als heute angenommen wird, wenig mit der Position der Erde im Sonnensystem zu tun, sondern war ein Streit um die Unabhängigkeit der Wissenschaft und ob sie bei den religiösen Autoritäten um Zustimmung ersuchen musste. Die Erde – und damit der Mensch – stehen nicht mehr im Zentrum des Universums, die privilegierte Stellung der christlichen Kirche ist damit genauso in Frage gestellt, wie die ganze Hierarchie der alteuropäischen Gesellschaften. Trotzdem und das ist das eigentliche Bemerkenswerte an dieser Entwicklung gibt es nach 1700 weder von religiöser noch von politischer Seite Widerstand gegen den Aufstieg der Naturwissenschaften. Die oftmals behauptete Ablehnung der wissenschaftlichen Erfassung der Welt durch die christlichen Kirchen ist ein Mythos, der einem postmodern atheistischen Narrativ geschuldet ist, das in den letzten 60 Jahren seine eigenen Dogmen und Glaubenssätze geschaffen hat. Der Konflikt von dem wir reden, wenn es um Spinoza geht ist ein politischer Kampf um Deutungshoheit und Hegemonie. Aber dazu später.

Neben der Struktur des Sonnensystems findet parallel dazu auch die Physik der festen Körper ihre Form. Die Fortschritte in der Mathematik, in der analytische und geometrische Methoden schrittweise und unabhängig voneinander entwickelt wurden, sind bei allen gebildeten Menschen auf die eine oder andere Art bekannt und werden an allen Bildungseinrichtungen intensiv fortgeführt. Die Beobachtung, dass Eisenspäne von magnetischen Flächen angezogen wurden, hat zur Annahme geführt, dass Planeten Anziehungskraft besitzen müssen, ohne dass das nach klassischen Methoden beweisbar gewesen ist. Wie Schwerkraft etwa mit den Hebelgesetzen zusammenhängt, blieb noch im Dunkeln. Die meisten Phänomene wie Schwerkraft, Trägheit und Masse waren aber bereits bekannt, bevor ihnen Newton in der „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ aus dem Jahre 1687 eine mathematische Form gab, die mit der euklidischen Geometrie vereinbar war. Newton’s Universum (und das der folgenden Jahrhunderte) war ein endlicher, deterministischer Raum, in dem die Naturgesetze immer gelten und erst im frühen 20. Jahrhundert durch Quantenmechanik und Relativitätstheorie durch eine neuerliche Revolution des wissenschaftlichen Denkens irreversibel verändert wird.

Im von Katholiken und Protestanten umkämpften Holland kommt Baruch de Spinoza 1632 in Amsterdam zur Welt. Seine Eltern sind Marranen, jüdische Auswanderer, die von der Inquisition aus Portugal und Nordspanien vertrieben worden waren.

Holland ist im Gegensatz zu seinen absolutistischen Nachbarn der einzige Staat in Europa, der schon Züge rechtsstaatlicher Institutionen trägt und dessen Regime ein starkes Interesse an den ökonomischen Potentialen dieser Zuwanderung hatte. Das gilt gleichermaßen für deutsche und französische Protestanten, wallonische Katholiken, spanische Juden und englische Piraten.

Sein Vater genießt in der jüdischen Gemeinde hohes Ansehen und baut ihn zu einem jungen Hoffnungsträger des Rabbinats auf. Spinoza gilt als Wunderkind in Sachen Talmud und Tora Expertise. Er lernt, was damals alle gebildeten Menschen lernen, lateinisch und ein bisschen griechisch, Mathematik, hier vor allem Geometrie und wird durch einige Reisen ermutigt Descartes und Hobbes zu lesen. Schon zu dieser Zeit kommen ihm starke Zweifel an religiösen Dogmen. Anders als die meisten seiner Mitschüler formuliert Spinoza jedoch seine Kritik explizit und trägt sie bis an ihr bitteres Ende. 1656 wird er von der jüdischen Gemeinschaft Amsterdams ausgeschlossen, die jeden Kontakt ihrer Mitglieder mit ihm verbietet.

Will und Ariel Durant schreiben in Band 13 ihrer „Kulturgeschichte der Menschheit“: „Es wurde oft darauf hingewiesen, aber es muss immer von neuem daran erinnert werden, daß sich die Vorsteher der jüdischen Gemeinde Amsterdams gegenüber Ketzereien, die an die Fundamente nicht nur des jüdischen, sondern auch des christlichen Glaubens rührten, in einer heiklen Lage befanden. Die Juden erfreuten sich in der Republik Holland einer religiösen Duldung wie sonst nirgendwo in christlichen Landen; diese konnte ihnen aber entzogen werden, wenn sie unter sich Ideen duldeten, die die religiöse Grundlage der Sittlichkeit und der Gesellschaftsordnung gefährdeten.“ (Durant 1982, 155ff)

Nach einem Mordanschlag jüdischer Fanatiker zieht er zunächst nach Leiden, dann in die kleine Stadt Rijnsburgh und schließlich nach Den Haag, wo er 1677 auch stirbt. Spinoza schließt sich zeit seines Lebens keiner Religion mehr an, obwohl ihm Freunde (und Gegner) eine Konversion zum Christentum anraten oder empfehlen. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen arbeitet er als Optiker, der Linsen für wissenschaftliche Instrumente schleift. Von seinen Werken erscheint zu seinen Lebzeiten nur der anonym veröffentlichte „Theologisch-Politische Traktat“. Die „Ethik“, die er erst kurz vor seinem Tod vollendet, wird kurz darauf erstmals gedruckt.

Der „Theologisch-Politische Traktat“ (in folgenden: TTP), veröffentlicht 1670, ist ein bemerkenswertes Buch, das nach seinem Erscheinen enorme Schockwellen durch die intellektuelle Landschaft Europas zieht. Seine Gegner bezichtigen ihn des Atheismus, des Pantheismus, der Gotteslästerung und des Umsturzes aller Ordnung. Selbst Freunde und Bewunderer wie Leibnitz müssen sich öffentlich von Spinoza distanzieren, um ihre Stellung nicht zu verlieren. Der Hass, den der exkommunizierte Jude auf sich zieht reicht von der Katholischen Kirche über die Protestanten bis zur jüdischen Orthodoxie. Es gibt im TTP zwei große Themen: die Kritik an der wortwörtlichen Interpretation der Bibel und die Kritik der politischen autoritären Herrschaft, die Spinoza als sich gegenseitig bedingende Faktoren betrachtet. Grundlage seines Denkens bleibt jedoch die an der jüdischen Tradition geschulte Textexegese und eine an sprachlicher und etymologischer Genauigkeit orientierte Lektüre.

„Er erkannte und bewies die Schwierigkeit, das Hebräische des Alten Testaments zu verstehen; die Vokalisierung und Akzentuierung des Massora-Textes beruhte teilweise auf Vermutungen und konnte schwerlich als unanfechtbare Urfassung gelten.“ (Durant 1982, S. 159) Es sei an dieser Stelle auf ein Werk des britisch-pakistanischen Islamkritikers Ibn Warraq verwiesen, „Virgins. What Virgins?“ (New York 2010), das versucht diese Art von Kritik für die islamische Textkultur einzuführen und zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen kommt. Spinoza jedenfalls kann im biblischen Text und seiner Überlieferung zahlreiche Fehler, Inkonsistenzen und Widersprüche finden und zeigt, dass die Autoren der biblischen Texte auch als Propheten niemals über ihren eigenen Horizont hinaus gedacht haben und auch für 1670 völlig veraltete Auffassungen etwa über die Position der Erde im Sonnensystem vertraten. Anders als seine Feinde (und auch Freunde) meinen, war Spinoza kein Atheist oder Pantheist, sondern ein religiöser Mensch, wie alle seine Zeitgenossen. Es ging ihm nicht um die Abschaffung der Religion, sondern um die Begrenzung politischer Macht und religiöser Autorität in einem säkularen Gemeinwesen.

Obwohl man mit dem Begriff im Kontext des 17. Jahrhunderts vorsichtig sein muss plädiert Spinoza für eine Form der Demokratie und der Vernunft, die autoritäre Herrschaft ebenso ablehnt wie die Ideologisierung der Gesellschaft durch organisierte Religion, denn „die grosse Menge denkt nicht daran, nach den Lehren der heiligen Schrift zu leben; alle ihre eigenen Erdichtungen giebt sie für Gottes Wort aus und strebt nur unter dem Vorwand der Religion, Andere zu gleicher Meinung zu nöthigen.“ (TTP Kap. VII, S 170) Die Willkür der unkritischen Religionspraxis entspricht der Willkür politischer Herrschaft, die Religion instrumentalisiert. Wenn wir an das Elend heutiger Islamapologie denken, dann sollten wir immer darauf bestehen, dass der Missbrauch der Religion für machtpolitische Zwecke die Folge einer unkritischen Praxis der Religion selbst ist und nicht bloß ihr Nebenprodukt. Seit Spinoza sind Demokratie und Vernunft Eckpfeiler einer Philosophie, die textbasierte jüdische Exegese Tradition mit dem naturwissenschaftlichen Rigorismus der kommenden Aufklärung verbindet und dadurch die Kritik der Religion auch zum Vorteil der Religion selbst betreibt.

Der zu den besten jüdischen Schriftgelehrten seiner Zeit zählende Spinoza interpretiert den biblischen Text nicht wie die gesamte Tradition zuvor, nach dogmatischen Interpretationsregeln religiöser Notwendigkeiten, sondern als sinnvoll zu erfassenden Text, dessen Lektüre immanenten inneren Logiken gehorchen muss. Er kritisiert: „Die Theologen sind meist nur bedacht, ihre Erfindungen und Einfälle aus der heiligen Schrift herauszupressen und mit göttlichem Ansehn zu umgeben. Mit wenig Bedenken und mit um so grösserer Frechheit legen sie die Bibel oder die Gedanken des heiligen Geistes aus, und haben sie noch eine Sorge, so ist es nicht die, dem heiligen Geist einen Irrthum anzuheften und von dem Wege des Heils abzuirren, sondern nur von Anderen nicht widerlegt zu werden, damit ihr eignes Ansehn nicht unter die Füsse komme und von Anderen verachtet werde.“ (ebd.)

Anders als Thomas Jefferson, der ein Jahrhundert später seine eigene Version der Bibel vorlegt, in der sämtliche dem zeitgemäßen modernen Verständnis widersprechende Stellen getilgt sind, bleibt Spinoza nicht dabei stehen, das was unsinnig oder wissenschaftlichem Denken absurd erscheint zu kritisieren. Es geht ihm darum zu zeigen, dass die Predigt der Bibel wo sie Vernunft und gesundem Menschenverstand widerspricht ein Mittel der politischen Herrschaft ist.

„Die Verwalter oder Inhaber der Herrschaft suchen für Alles, was sie thun, immer den Schein Rechtens zu gewinnen und das Volk von der Rechtmässigkeit desselben zu überreden; sie vermögen dies leicht, da die Auslegung des Rechts nur ihnen zusteht.“ (TTP, Kap XVII, S. 386) Die kritisch rationalistische Interpretation der Bibel dient dazu der Freiheit der einzelnen in einem demokratischen Gemeinwesen zu ihrem Recht zu verhelfen. Und dies ist was den gewalttätigen Hass der Eliten und religiösen Autoritäten erklärt, mit denen Spinozas Denken mehr als zwei Jahrhunderte konfrontiert war.

Was er später in der „Ethik“ systematisieren wird ist, dass die Massen gegen die Vernunft und damit auch gegen die Natur in Knechtschaft gehalten werden, weil die menschlichen Gesellschaften noch nicht weit genug sind die Gesetze der Natur zu begreifen. Menschliche Begierden und Ignoranz sind jedoch keine Fehlleistungen sondern selbst Ausdruck der Natur der Menschen, die sich ihrer eigenen Verhältnisse (noch) nicht bewusst ist. Die große Leistung Spinozas, die im TTP erst angedeutet und in der „Ethik“ zu einem mächtigen philosophischen System ausgearbeitet wird, ist heute fast selbstverständlich: dass menschliche Gesellschaften Gesetzmäßigkeiten folgen, die nur durch naturwissenschaftliche Abstraktion erkennbar sind und dass jeder metaphysische Erklärungsansatz historisch verortet werden muss. Verkürzt gesagt vollendet Spinoza die Verwissenschaftlichung der Welt indem er den Begriff der Immanenz in die Philosophiegeschichte einführt, der jedes Phänomen als von eigenen inneren Logiken und Strukturen dominiertes Gebilde ansieht, dessen Genese nur strikt historisch erfasst werden kann. Spinoza war keineswegs der erste, der Religion und Gesellschaft zu entmystifizieren versuchte, aber niemand vor ihm kam jemals so weit darin, dies als universales Paradigma so überzeugend und philosophisch zwingend zu formulieren.

 

Verwendete Literatur:

Leo Strauss: http://www.ntslibrary.com/PDF%20Books/strauss%20on%20How%20to%20Study%20Spinoza%20Theologico.pdf

Spinoza, TTP:http://www.linke-buecher.de/texte/romane-etc/Spinosa–Theologisch-politische%20Abhandlung.pdf

Rebecca Newberger Goldstein: Betraying Spinoza (New York 2006)

Will und Ariel Durant, Kulturgeschichte der Menschheit (Band 13): Vom Aberglauben zur Wissenschaft, München 1982

Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem II – Der Merkantilismus, Wien 1998

 

27 Kommentare leave one →
  1. 30. Dezember 2016 20:02

    Interessante und ausführliche Darstellung, danke!
    Hast du Beispiele für die Dogmen und Glaubenssätze des atheistischen Narrativs? Ich kann mir da gerade nicht so richtig was drunter vorstellen.

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    • 31. Dezember 2016 12:01

      Danke für das Lob.

      Um das besser verständlich zu machen, was ich unter dem „postmodernen atheistischen Narrativ“ verstehe, ist es notwendig ein wenig auszuholen.
      Die Geschichte des westlichen Erfolgs in den Naturwissenschaften wird z.B. von Leuten wie Richard Dawkins immer so erzählt: eine übermächtige christliche Kirche wacht eifersüchtig über die unverständlichen Dogmen wie Trinität, Jungferngeburt und die Existenz Gottes, bis mutige atheistische und vollkommen unvoreingenommene Helden des wissenschaftlichen Denkens die rückständigen Kirchenfürsten in die Schranken weisen.

      Bei Dawkins, der sehr viel Zeit damit verbracht hat evangelikale Kreationisten zu bekämpfen ist es natürlich verständlich, dass er auf diese dummdreisten Idiotien natürlich unfreundlich reagiert, aber in „The God Delusion“ schütte er das Kind einfach mit dem Bad aus.

      Es ist richtig, dass christliche Religion immer wieder in Konflikt mit Wissenschaften umd ei Deutung der Welt gekommen ist, wie man an der Evolutionsbiologie deutlich sehen kann, aber dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Die abendländische Rationalität ist eine Erfindung der scholastischen Theologie, vor allem Thomas von Aquins und Duns Scotus im 12. und 13.Jahrhundert. Dawkins macht sich in „The God Delusion“ über den berühmten Gottesbeweis von Anselm von Canterbury lustig, den er noch dazu falsch wieder gibt, der im Wesentlichen lautet, dass die Existenz Gottes deshalb zwingend ist, weil: „Wenn wir also etwas denken können, über das Größeres nicht gedacht werden kann, muss dieses auch in Wirklichkeit existieren.“

      Der Punkt ist nicht ob das richtig oder falsch ist, vom Standpunkt des 11. Jahrhunderts aus war es jedenfalls gut genug um darüber ernsthaft zu diskutieren, sondern dass vor allem Thomas von Aquin fest hielt, dass Logik und operationalisierbare Deduktion die wichtigsten Instrumente des Denkens sind. Die Scholastiker waren die ersten in Europa, die aristotelische Logik und griechische Philosophie auf die christliche Dogmen und Glaubenssätze anlegten und zwar mit ausdrücklicher Billigung der Kirche.
      Es ist nicht so wichtig, dass die Scholastiker unserem Verständnis nach zu richtigen Schlussfolgerungen kamen, sondern dass sie erkannten, dass Logik überhaupt Grundlage jedes Denkens sein muss. Die Versuche im Mittelalter muten heutzutage nicht sehr beeindruckend an, waren aber gewaltige Schritte für eine Kultur, die einerseits durch die Völkerwanderungen erhebliche zivilisatorische Verluste erlitten hatte und anders als die islamischen Reiche des Nahen Ostens von den großen Handelsstraßen weit entfernt waren und darum ökonomisch unterentwickelt gewesen ist.

      Das christliche Erbe besteht nicht nur aus Religion. Die Einführung des kanonischen Rechts, die Gründung von Universitäten und die Nutzung von Banken fürs Kreditwesen wären ohne die Katholische Kirche ebenfalls nicht möglich gewesen.

      Eine sehr schöne Darstellung dieser Dinge findet man hier.

      Es geht nicht darum den Atheismus als solchen madig zu machen, sondern eine historisch adäquate Beschreibung zu geben, die durch einen ideologischen Zugang oft verdeckt wird.

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      • 31. Dezember 2016 12:10

        Ich danke dir auch für diese Erläuterung, aber wenn ich darf: Möchtest du meine ursprüngliche Frage noch beantworten?

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        • 31. Dezember 2016 15:05

          Sehr gerne.

          Das atheistische Narrativ setzt einen scharfen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion, der besagt, dass Religion eben nur Glauben ist, und Wissenschaft Wissen an sich verkörpert. Oder besser: der Absolutheitsanspruch, den Religion in seinen unsympathischsten Formen formuliert wird einfach von Wissenschaft selbst für sich garantiert. Richard Dawkins oder Sam Harris und die „New Atheists“ haben da unrühmliche Arbeit geleistet. Auch der viel zu früh verstorbene Christopher Hitchens hat da seinen Beitrag geleistet.
          Das Problem dabei ist, dass Wissenschaft als Modell für Erkenntnis immer die eigenen Grenzen kennen sollte. Eben weil Wissenschaft, wenn sie korrekt betrieben wird Aussagen treffen kann, die innerhalb eines Modells Gültigkeit haben und darüber hinaus eben nicht, kann sie keinen (politischen) Anspruch auf universale Gültigkeit formulieren.

          Die Warnung vor religiösem Fanatismus, die ja völlig berechtigt ist, übersieht oft, dass atheistische Regime und wissenschaftlicher Rationalismus für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verantwortlich sind. Weil Wissenschaft vor allem Potentiale sieht, also was möglich ist und denkbar, bietet sie keine vorausgehende Ethik an.

          Der Glaubenssatz, dass diese Ethik unnötig ist, sondern ganz ohne metaphysisch geerdete Moral auszukommen, weil sie angeblich offensichtlich ist, gehört zu diesen Dogmen des postmodernen atheistischen Narrativs, Moral und Ethik, auch das ist eine wesentliche Erkenntnis von Spinoza sind nicht selbst evident, sondern müssen auch innerhalb eines wissenschaftlich orientierten Denkens neu erarbeitet werden.

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        • 31. Dezember 2016 15:15

          Öh… Okay… Ich sehe das völlig anders als Sie, aber jedenfalls besten Dank fürs Erklären.

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        • 31. Dezember 2016 17:27

          Sie sehen was genau anders? Mir ist nicht klar, was ihr Einwand ist, weil sie ihn vermutlich noch nicht formuliert haben, aber es würde mich interessieren.

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        • 31. Dezember 2016 17:39

          Ich sehe so ziemlich alles anders, was Sie geschrieben haben, und erkenne an dem, was Sie schreiben, dass wir auch keine Basis für einen sinnvollen Austausch haben. Deshalb würde ich uns beiden auch eine weitere Vertiefung ersparen und versuche nicht weiter, meine Position zu erklären.
          Ich denke, eine Verständigung zwischen uns dürfte nicht mit vertretbarem Aufwand erreichbar sein, und möchte uns deshalb die Mühe weiterer Versuche gleich ersparen.
          Dennoch danke für das Interesse, und alles Gute!

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        • 31. Dezember 2016 18:24

          Sie müssen ja nicht mit mir diskutieren, es hätte gereicht zu sagen, was sie anders sehen oder was ihre komplett andere Position ist. Ansonsten alles Gute.

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        • 1. Januar 2017 13:59

          Es ist halt mühselig zu erklären, weil wir meines Erachtens nicht mal mit den Worten, die wir benutzen, das gleiche meinen. Es fängt schon damit an, dass ich die Existenz eines atheistischen Narrativs bestreiten würde, und auch wenn ich von Dawkins nicht viel weiß, sehr zweifeln, dass sie seines halbwegs zutreffend wiedergeben.
          Und dann habe ich halt das Problem, dass ich ein bisschen unter dem Someboy-is-wrong-on-the-internet-Syndrom leide. Wenn Sie dann also auf meine Kritik wiederum antworten, müsste ich mich darüber also entweder still ärgern und dem Impuls widerstehen, es doch noch mal besser zu erklären zu versuchen, oder eben doch die Zeit aufwenden, hier zu diskutieren. Und um beides zu vermeiden, schweige ich, und versuche in Zukunft, auch gleich damit anzufangen, und nicht erst Andeutung zu streuen und dann abzuhauen.

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        • 1. Januar 2017 18:09

          Wenn sie von Dawkins nicht viel wissen, wie können sie dann daran zweifeln ob ich ihn richtig wiedergebe? Sie unterstellen mir zu lügen, ohne das auch nur ansatzweise begründen zu können. Auch die Behauptung, dass wir mit den Worten die wir benutzen nicht das gleiche meinen ist ein Scheinargument. Denn offensichtlich behaupten sie ja nicht dass ich etwas anderes meine, sondern das es falsch ist. Wenn sie die Existenz eines atheistischen Narrativs bestreiten, dann haben sie schon Andeutungen gestreut.

          Ich bin ausgebildeter Philosoph, es gehört zu meinen Skills darüber Bescheid zu wissen, was Worte bedeuten und Begriffe und ihre Geschichte zu kennen. Anders gesagt: sie wollen etwas an mir kritisieren, scheinen aber vor allem daran zu scheitern, das zu benennen.

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        • 1. Januar 2017 18:15

          Sie sehen, was ich meinte, als ich sagte, dass ich besser nicht versuche zu erklären, was ich meine, weil wir uns eh nicht verstehen, oder?

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        • 2. Januar 2017 08:57

          Man kann sich auch unterhalten wenn man sich nicht versteht.
          Sie haben schlicht keine Argumente und verstecken das hinter einer passiv aggressiven Rhetorik.

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    • 1. Januar 2017 12:28

      Vorausgeschickt sei: Ich finde der Pantheismus und der Atheismus können problemlos nebeneinander koexistieren. Der „Gotteswahn“ (Dawkins) und „Das Ende des Glaubens“ (Harris) sind zugegeben für eine breite Masse geschrieben und bei aller Kritik doch sehr empfehlenswerte Bücher. Dawkins belegt mit seinen Eisenbahn/Weichen-Beispielen dass eine humanistische Ethik keinen Gott braucht und Harris weist schlüssig das „Problem mit dem Islam“ nach. Dawkins behandelt in einem Kapitel des „Gotteswahns“ die Frage der „atheistischen Regime.“ Stalin war zweifellos ein Atheist, aber ob sein Regime deshalb atheistisch oder sein Handeln vom Atheismus bestimmt war, kann bezweifelt werden. Nazideutschland war keineswegs atheistisch. Man muss dazu nur die vielen Verstrickungen der Kirchen mit Nazideutschland betrachten. Von Hadamar, dem Einzug der Kirchensteuern bis hin zum Reichskonkordat. Auf dem Koppel der Reichswehr stand: „Gott mit uns.“

      In der „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer) wird auf die Gefahr der Dominanz einer technisch rationalen Vernunft (Odysseus oder Mythos und Aufklärung) zu Recht hingewiesen. Die instrumentelle Vernunft führte letztendlich nach Auschwitz. Nicht zuletzt gaben viele Denker der Aufklärung von Voltaire („Juden sind gefährlich für das Menschengeschlecht“) bis Kant („Juden sind Vampyre der Gesellschaft“) inakzeptable antisemitische Aussagen von sich. In seiner 8-bändigen Geschichte des Antisemitismus widmet Léon Poliakov dem Antisemitismus der Aufklärung einen eigenen Band. Bis heute hat sich in dieser Hinsicht wenig geändert. Oben beschriebener Sam Harris äußerte sich selbst sehr befremdlich was das Judentum angeht. Er schreibt über die Juden: „… ihre Weigerung, sich zu assimilieren, ihre Insularität und das Bekenntnis zur Überlegenheit ihrer religiösen Kultur — also der Inhalt ihres eigenen sektiererischen Glaubens“. Christopher Hitchens (in „Der Herr ist kein Hirte“) meinte gar: „Das Judentum ist nicht nur eine weitere Religion, sondern auf seine Art die Wurzel des religiösen Übels.“

      Der Antisemitismus des Christentums, des Islam und auch Stalins würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen.

      Überzogene und falsch akzentuierte, fanatisierte Religionskritik läuft so leider immer Gefahr reaktionär oder antisemitisch zu werden. Richard Dawkins ließ sich von der Giordano Bruno Stiftung und Michael Schmidt-Salomon auszeichnen. Mit dem „Ethik-Preis“ der GBS wurde auch der Eugeniker und Tierrechtler Peter Singer ausgezeichnet. Während sich Singer für Grundrechte für Menschenaffen ausspricht, fordert er das schwerst behinderte Babys bis zum 28. Tag nach der Geburt getötet werden dürfen. Reaktionäre Religionskritiker pur!

      Von allen monotheistischen Religionen ist das Judentum die mit Abstand friedlichste und humanste. Jahrhundertelang wurden und werden Juden von ihren Konkurrenz-Religionen ausgegrenzt und verfolgt. Der jüdische Gott ist nicht-identisch und da wären wir wieder bei Adorno und seiner kritischen Theorie.

      Laut Religion gibt es einen allmächtigen und allgütigen Gott. Dieses Dogma ist unter anderem angesichts des jahrhundertelangen Grauens aus meiner Sicht unhaltbar. Die Sehnsucht danach kann ich aber gut verstehen. Im Judentum wird das Wort Gott vermieden. Ich finde dieser nicht-identische Gott ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bertolt Brecht legte seinem Gallei folgenden Satz in den Mund, als Sagredo ihn fragte wo ist Gott in deinem System: Gott ist „In uns oder nirgends!“ So verstehe ich einfach gesagt den Pantheismus und mit dem kann ich als Agnostiker (meinetwegen Atheist) gut leben.

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      • 1. Januar 2017 16:18

        Es ist ein Fehler zu glauben, dass sich Religion einzig darauf reduzieren lässt, ob man an die Existenz einer übernatürlichen Kraft glaubt. Genau genommen ist die unwichtigste Sache an einer Religion dass man übereinstimmt oder ablehnt ob es Gott gibt oder nicht. Religion ist eine soziale Praxis deren Wesen darin besteht eine Gesellschaft an einen gemeinsamen Vertrag zu binden, der ein Mindestmaß an sozialer Kohäsion ermöglicht. Religion schafft einen Ausgleich zwischen reich und arm, Mächtigen und Untertanen, Dummen und Klugen. Es ist eine Sprache, die transgressiv ist und Konsens organisiert. In einer globalisierten technologischen Welt kann Religion das nicht mehr alleine leisten und ist zudem in einem Markt konkurrierender Sinngebungsmaschinen einem hohen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Das Problem mit der Religion beginnt also dort, wo sie ihren alleinigen Anspruch auf Weltdeutung nicht mehr durchsetzen kann, aber nicht auf ihn verzichten will. Der Islam im Besonderen ist eine Religion, die das aus verschiedenen Gründen nicht kann und darum immer wieder in mörderische Konflikte gerät.

        Der Atheismus der Nazis und der Stalinisten bestand darin, die Begrenzung von absoluter Macht die durch religiöse Praxis gewährleistet ist aufzuheben und den Führer oder die Partei an die Stelle Gottes zu setzen, der jeder moralischen Bindung enthoben ist. Gerade der Stalinismus mit seinem Personenkult ist ein Atheismus, der einem diesseitigen Gott huldigt und durch die Bekämpfung der Religion jeder Begrenzung von absoluter Macht den Kampf ansagte. 50 Millionen Tote später übernahm daher wieder das orthodoxe Christentum seine ursprüngliche Rolle im heutigen Russland wieder ein.

        Die Nazis fügten anstelle Gottes den Führer und einen naturwissenschaftlich motivierten Begriff der Rasse ein, mit dem jede jenseitige Verortung und Verantwortlichkeit außer Kraft gesetzt werden konnte. Die Ermordung aller Juden war auch der Versuch den spirituellen Kontext der europäischen Zivilisation zu töten, der mit dem Judentum beginnt.

        Atheismus ist nicht das Gegenteil von Religion, sondern die Ersetzung der Stelle Gottes durch ein diesseitiges Paradigma. In der Regel sieht das so aus, dass ein naturwissenschaftlicher Atheismus jede moralische Verantwortlichkeit ablehnt und sich nicht an sozialen Konsens gebunden fühlt. Das muss nicht immer schlecht sein, es ist aber den wenigsten Atheisten bewusst, dass sie keineswegs aufgehört haben zu glauben, sondern bloß den Namen Gottes durch ein anderes Paradigma ausgetauscht haben, das modischer klingt. Wer jemals in einer linksradikalen Gruppe aktiv war, weiß was ich meine.

        Der israelische Historiker und Zukunftsforscher Yuval Harari sagt sinngemäß: Alles kann die Form von Religion annehmen, auch und gerade Wissenschaft, die sich jeder metaphysischen Erdung widersetzt. Sie ist nichts anderes als die Form, die Religion annimmt, wenn sich die wissenschaftliche Ideologie von jeder Ethik und Moral frei spricht und sich als absolut setzt.

        Adorno und Spinoza sind beides Autoren, die sich dieser Gefahr bewusst waren und rieten, dass auch ein nicht religiöser Zugang zur Welt metaphysisch geerdet sein muss, das heißt, er muss mit ethischen und moralischen Prinzipien arbeiten, die nicht unmittelbar in seinen eigenen Voraussetzungen zu finden sind.

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      • 2. Januar 2017 10:25

        Ich würde Religion keineswegs darauf reduzieren ob man an die Existenz einer übernatürlichen Kraft glaubt oder nicht. Ich beurteile die Religion nach ihrem Nutzen oder ihrem Eintreten, für oder gegen die Emanzipation der Menschheit, für oder gegen Humanismus.Ich vermute aber für die rund zwei Milliarden Christen sind die die Fragen nach einer übernatürlichen Instanz und einem Jenseits schon von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus ist Religion freilich vor allem eine soziale Praxis, die oftmals in unterschiedlicher Form kritisierbar ist. Dostojewskis Aussage “Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt”. Dieser Satz ist auch der Ausgangspunkt von Sartres atheistischem Existentialismus. Ich streite zudem nicht ab, dass bestimmte Menschen einen Gott brauchen und dass Religion, wenn ihr Gott domestiziert ist auch seine positiven Eigenschaften haben kann.

        Wie bereits erwähnt war aus meiner Sicht der Atheismus bei Nazis oder Stalin nicht ausschlaggebend für die jeweiligen Verbrechen. Personenkult, also die Vergöttlichung eines Führers, Diktators oder Herrschers gab es auch bei den Pharaonen und allen möglichen absolutistischen Monarchien. Übrigens verbat sich Fidel Castro jeden Personenkult, sogar über seinen Tod hinaus und bekanntlich war auch Castro ein ungläubiger Diktator.

        Richard Dawkins befasst sich in dem Kapitel (ab Seite 378) „Und was ist mit Hitler und Stalin? Waren das nicht Atheisten“ mit der Thematik und gibt wie ich finde gute Antworten. Hitler ist nie aus der katholischen Kirche ausgetreten. Bei einer Rede in Berlin sagte Hitler, dass die Menschen den Glauben brauchen und dass er deswegen den Atheismus bekämpft und ausgemerzt habe. Hitler wusste dass die Kirche die Juden als Mörder Christi betrachteten und Julius Streicher meinte bei den Nürnberger Prozessen, dass Martin Luter an seiner Stelle hier sitzen, wenn er noch leben würde. Hitler wie Luther bezeichnete die Juden als „Natterngezücht“ und in vielen weiteren Reden bezeichnete Hitler sich als Christ. Auf die vielen antisemitischen Schriften von Luther muss ich hier nicht eingehen. Beide christliche Kirchen arbeiteten eng mit Hitler zusammen, sie beide hatten denselben Feind, die Juden und den Bolschewismus.
        Stalin war Atheist, geprägt war er aber auch durch seine christliche Erziehung. Seinen Antisemitismus übernahm er von der christlich-orthodoxen Kirche. Judenpogrome gab es in Rußland lange vor Stalin.

        Es gibt nicht nur den naturwissenschaftlichen Atheismus, der jede moralische Verantwortlichkeit ablehnt und sich nicht an sozialen Konsens gebunden fühlt. Adornos kritisiert dies zurecht und eindrucksvoll in der „Dialektik der Aufklärung.“ Auf die Schnelle fällt mir auch noch Homo Faber von Max Frisch ein, der diesen Atheismus auf seine Art kritisiert. Es gibt beispielsweise auch Sartres Existenzialismus.

        Ich würde Sartres atheistischen Existenzialismus jeder Religion vorziehen: „Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.“ Siehe dazu meinen Beitrag: Jean-Paul Sartre und der atheistische Existentialismus

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        • 2. Januar 2017 13:56

          Ich finde diese Diskussion ja hoch interessant. Ich hoffe das geht anderen auch so.
          Die Unterschiede der Philosophie Sartres zu der Spinozas sind ganz enorm. Zunächst einmal muss man sagen, dass Sartre ja ganz wesentlich von Heidegger beeinflusst wurde, weil das Geworfen sein in die Welt eine Differenz zwischen Sein und Seiendem voraus setzt, die Freiheit als kontingente Bedingung der Existenz betrachtet. Frei ist der Mensch, weil es kein dem Sein vor gängiges Paradigma gibt, also zu deutsch keinen Schöpfergott, der der Existenz voraus geht.

          Spinoza sieht das anders. Er hält Menschen für einen Teil der Natur und von dieser vollständig determiniert. Es gibt darum auch keinen freien Willen. Die Begründung dafür ist sehr kompliziert, aber einer der am nachvollziehbarsten Beispiele die er gibt ist der eines Betrunkenen, der im besoffenen Zustand Dinge sagt, die er am nächsten Tag bitter bereut. Der Begriff des freien Willens sagt er ist irreführend, weil sich Menschen in der Regel nicht der Ursache ihres Tun und Handelns bewusst sind und nur in der intellektuellen Abstraktion zu adäquaten Ideen darüber kommen können. Menschen sind nicht frei, sondern stets in einem Netzwerk von Zwängen und Umständen eingebunden, die sie nur selten reflektieren und nicht bewusst wahrnehmen. Dass er mit dieser Argumentation Freud und Nietzsche vorwegnimmt soll uns hier nur am Rande interessieren. Aus einem marxistischen Blickwinkel hat Louis Althusser dieses Motiv in seiner Ideologietheorie bearbeitet, der ja bekanntlich Spinoza als wichtigste Quelle seiner Arbeit betrachtet hat.

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        • 3. Januar 2017 10:06

          Sartre hat seine These der absoluten Freiheit in späteren Jahren abgeschwächt. Sartre wusste von den Zwängen und unterschiedlichen Lebensumständen der Menschen.

          Die Verantwortlichkeit ist eine der Hauptfragen jeder Philosophie. Ohne freien Willen auch keine oder kaum Verantwortung.

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  2. 31. Dezember 2016 14:51

    Vielen Dank, lieber Jurek, für deine Einführung in die Philosophie von Spinoza. Vor vielen Jahren habe ich mir Spinozas „Ethik“ zugelegt, habe aber nach einigen Seiten aufgegeben und das Werk wieder in das Bücherregal gestellt. In der Kröner-Ausgabe fand ich in der Einführung schon einige Hinweise in welche Richtung Spinoza gedacht hat. Demnach war Spinoza ein Pantheist und seine Kritiker warfen und werfen ihm Utilitarismus vor.

    Seine Lehre ist nicht ganz einfach zu verstehen, so bereits nach der ersten Seite: „Erster Lehrsatz – Die Substanz ist von Natur früher als ihre Erregungen. Beweis. Folgt aus Begriffserklärung III und IV.“

    Begriffserklärung 3: Unter Substanz verstehe ich dasjenige, was in sich ist und durch sich gedacht wird: das heißt dasjenige, was in sich ist und durch sich gedacht wird: das heißt dasjenige, dessen Begriff des Begriffes eines anderen Dinges nicht bedarf, um daraus gebildet zu werden.
    Begriffserklärung 4: Unter Attribute [wesentliche Eigenschaft] verstehe ich dasjenige, was der Verstand an Substanz als deren Wesen ausmachend erkennt.

    Ich werde wohl die Tage einen zweiten Versuch starten müssen, fraglich ob er gelingt.

    Du sprichst in deinem Beitrag den großen islamischen Aufklärer Ibn Warrag an. Ibn Warrags Werk, „Warum ich kein Muslim bin“ habe ich mit Gewinn gelesen. Darin wird unter anderem auf Spinoza und andere Aufklärer und ihre Forderung der Trennung von Kirche und Staat verwiesen. Warrag stellt entscheidende Fragen: Lässt der Islam die Trennung von Staat und Kirche zu? Ist er kompatibel mit Demokratie und modernen Menschenrechten? Warrags Fragen, mit den niederschmetternden Antworten, werden im angeblich aufgeklärten Europa leider viel zu wenig gestellt.

    Deinem Verweis auf Galileo Galilei kann ich nur zustimmen. Bekannt geworden ist der Streit Galileis mit dem Vatikan um die Unabhängigkeit der Wissenschaft freilich durch Brechts gleichnamiges zur Pflichtlektüre empfohlenes Stück.

    Schön auch dein Verweis auf Hollands Fortschrittlichkeit und Toleranz gegenüber anderen Kulturen: “Jeder war willkommen, solange die Neuankömmlinge auf politische Agitation verzichteten.“ Bis vor kurzem waren die Niederlande das Musterland für Multikulti. Spätestens nach dem Mord an Theo van Gogh gibt es auch in den Niederlanden kritische Stimmen gegen den Islamismus, leider vor allem, wie in so vielen europäischen Ländern, im rechtspopulistischen Bereich.

    Kurz gesagt, ein sehr gelungener Text.
    Beste Grüße und ein gutes neues Jahr

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    • 31. Dezember 2016 15:11

      Vielen Dank.

      Mein Angebot, an dieser Stelle einen Text zur Einführung in die ´“Ethik“ zu veröffentlichen steht. Die Schwierigkeiten zum Verständnis, die du schilderst, sind nicht ungewöhnlich. Adorno schreibt in der „Philosophischen Terminologie“, die Zusammenfassung einer Vorlesungsreihe zur Einführung in die Philosophie, er sei bei der ersten Lektüre der „Ethik“ wie „eine Kuh vorm Scheunentor“ gestanden.

      Es gehört tatsächlich zu den schwierigen Übrungen, lohnt aber vor allem dann, wenn man verstehen will, warum der Widerstand gegen Spinoza so groß gewesen ist.

      Wenn sich Leserinnen und Leser dieses Blogs dafür interessieren, stehe ich zur Verfügung.

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      • 2. Januar 2017 11:25

        Mich würde Spinozas Ethik interessieren, noch viel mehr warum der Widerstand von jüdischer Seite so groß gewesen ist und inwieweit Spinozas Texte judenfeindliche Tendenzen offenbarten. Wie in meinen anderen Kommentaren bereits angemerkt, kann Religionskritik ein Ritt auf der Rasierklinge sein.

        Spinoza, die Marranen und die diversen Religionskritiker standen in ihrer Zeit im Schatten der Inquisition. Von daher kann ich mir gut vorstellen wie gefährlich Religionskritik sein konnte. Spinoza kritisierte aber, nach dem was ich weiß, die jüdische Religion.

        Ich habe nochmal bei Leon Poliakovs „Geschichte des Antisemitismus“ nachgelesen. In Band IV (Die Marranen im Schatten der Inquisition) widmet er Spinoza ein Unterkapitel. Poliakov schreibt über Spinoza und sein „eindrucksvolles Gedankengebäude“, das je von einem Menschen ersonnen wurde … der Welt die „jüdische Weisheit“ mitgeteilt hat. … von seinem genialen pädagogischer Einfall des geometrischen Beweises .. aber auch von „Anschwärzungen des eigenen Geschlechts, die zu einem heutigen Antisemitismus“ führt.

        Poliakov schreibt dort: „…In seinem Tractatus theologico-politicus, in dem er die Grundlagen des geoffenbarten Monotheismus erschüttert, gibt es kaum eine Beobachtung oder Kritik der in der Heiligen Schrift feststellbaren Widersprüche, die er nicht von Abraham ibn Esra, Raschi oder jenem Maimonides entnommen hätte, der seiner Ironie als Zielscheibe diente. Auf der anderen Seite greift er in diesem Werk den Begriff der Erwählung an und ordnet sich damit in die Reihe der alten jüdischen Freidenker wie zum Beispiel Hayawaih von Balch ein, den er aus der Polemik der Talmudlehrer kennen mußte. Es ist ganzoffenkundig, daß er durch den erstaunlichen Vorrang, der durch die jüdisch-christliche Tradition dem „erwählten Volk“ zugestanden wird, bestürzt und aufgebracht ist.“ (…)

        Wenn man seine Ausführungen näher in Augenschein nimmt, so entspricht das im Tractatus immer wiederkehrende judenfeindliche Thema einer Kunst des Kontrapunktes, die verschiedene Lesarten auf verschiedenartigen Ebenen in sich schließt. Es scheint ganz offenkundig, daß Spinoza seine Angriffe zunächst auf Aussagen gegen die Juden und das Alte Testament konzentrierte, genauso wie dies später auch Voltaire tut; handelte es sich doch dabei — taktisch gesehen — um die schwächsten Glieder in der Kette der überkommenen Glaubensinhalte. Auf einer zweiten Ebene redet Spinoza als scharfsinniger Talmudist und spricht zugleich in seiner ausführlichen Sprechweise eine zweite, nur Eingeweihten verständlichen Sprache; „er tut so, als wolle er eine Idee beweisen, aber er richtet sich darauf ein, nur solche Argumente zu verwenden und nur solche Texte zu zitieren, daß der Leser für sich allein eine ganz andere Idee und eine ganz andere Konsequenz entdeckt; in Wirklichkeit wollte Spinoza nur diese zweite Idee beweisen. Es handelt sich hier – in den Begriffen des Philosophen Wolfson ausgedrückt in der Person des Spinoza eingeschlossenen Baruch, das heißt um den ungläubigen Juden, der sich hinter dem nach außen sich erklärenden Benediktus, das heißt dem Marranen, der Jesus bewundert, versteckt.“

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        • 2. Januar 2017 13:30

          „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“

          Karl Marx, Zur Judenfrage

          http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_347.htm

          Wenn Spinoza anti-jüdische Ressentiments durch klingen lässt kommen sie niemals in Form von Verbindungen zwischen Geld, Raffgier und Judentum, wie dies Karl Marx einmal und sonst nie wieder in seinem Werk in „Zur Judenfrage“ passiert ist.

          Es gibt Leute wie Gilad Atzmon, die behaupten dass Spinoza so wie er ein jüdischer Selbsthasser gewesen sei, aber das kann auch nur diesem Idioten einfallen.

          Spinoza war ein gefeiertes Wunderkind seiner Gemeinde, bis diese ihn mit einem Bann belegte, der sogar seine Familie zwang sich komplett von ihm zu distanzieren. Dass er deswegen ein wenig ins emotionale Ungleichgewicht rutschte ist denke ich nachvollziehbar. Die meisten seiner Sticheleien sind sehr raffinierte theologische Argumente gegen die Doktrin eines „auserwählten Volkes“ und die historische Beweisbarkeit hebräischer Geschichtsschreibung.

          Es finden sich in seinem Werk keine antisemitischen Stereotype oder Klischees, wie sie zu jener Zeit in Überfluss vorhanden waren.

          Seine Philosophie ist eine Kritik der religiösen Praxis wo sie von der spirituellen Ressource zur Aufrechterhaltung autoritärer Herrschaft verkommt. Aber wie es scheint gibt es ein Bedürfnis die „Ethik“ genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich werde versuchen das Schritt für Schritt einmal zu machen. Wir werden sehen wir weit wir kommen.

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        • 3. Januar 2017 10:40

          Das Marx-Zitat ist mir bekannt. Dazu gäbe einiges zu sagen. Würde aber hier zu weit führen. Thomas Haury hat sich mit der „Judenfrage“ von Marx ausführlich beschäftigt.

          Im Kapitel von Poliakov über Spinoza beschreibt Poliakov die Zeit, den Einfluss von Dr. Juan de Prado, usw. und er anerkennt die „genialen“ Leistungen von Spinoza.

          Das Lebensthema von Poliakov war Zeit seines Lebens der Antisemitismus. Und so kritisiert Poliakov Sätze in der „Ethik“ wie: „Wer sich einbildet, dass ein anderer von Hass gegen ihn erfüllt ist, der hasst ihn selbst.“ Er meint die „Eigenverantwortung“ der Juden für den Hass gegen sie.

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        • 4. Januar 2017 10:51

          Also ich kenne die „Ethik“ recht gut, aber mir wäre der Zusammenhang den Poliakow herstellt niemals aufgefallen. Ist ein interessanter Einwand das so zu lesen. Leo Strauss kritisiert in seinem hier verlinkten Beitrag, dass Spinoza sehr unbarmherzig die wesentlichste Errungenschaft jüdischer Kultur, die Betonung der Offenbarungsprophetie aufgibt, weil er einem Szientismus frönt, der keine Grenzen kennt..

          Der Kontext, in dem das Poliakow Zitat steht sollte etwas genauer beleuchtet werden. In Spinozas Denken ist Un-Freiheit ein Zustand in der Menschen von ihren Leidenschaften getrieben werden. Hass, Zorn, Eifersucht, Neid sind Leidenschaften, die adäquate Ideen der Ursachen verhindern. Wer von seinen Leidenschaften getrieben wird, von Hass etwa, wird diese Gefühle zwangsläufig auch gegen sich selbst richten. Ich würde den Satz also in diesem Kontext verstehen. Adäquate Ideen über die Ursache von Phänomenen zu entwickeln ist Voraussetzung für ein gelungenes Leben. ich glaube dass Spinoza diesen Satz nicht als „Eigenverantwortung“ der Juden gemeint hat, sondern als Aufforderung an sich selbst, dem Hass und dem Zorn nicht nachzugeben, der zweifelsohne auch ihm zugesetzt hat.

          Die „Ethik“ ist ein Buch, das von der Formierung eines Individuums ausgeht, das in den Kontext einer deterministischen Natur eingebunden ist. Ihr Ziel als „Ethik“ ist es größtmögliche Selbstkritik mit möglichst geringer Generalisierung der Phänomene zu verbinden. Insofern glaube ich, dass Poliakow hier irrt, obwohl es sicher Leute gibt, die das da hinein interpretieren könnten.

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        • 5. Januar 2017 09:36

          Poliakov bezieht sich in seiner Kritik nicht auf die „Ethik“ von Spinoza. In die Zeit als Spinoza aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde fällt wohl die Abfassung der „Apologie“, diese verlorengegangene Schrift soll laut Poliakov voll von Angriffen auf das Judentum sein und einige Stellen daraus fügte er (laut Poliakov) seinem Tractatus teologico-politicus ein. Von anderer Stelle erfuhr ich dass sich David Nirenberg in seinem Buch Anti-Judaismus auf Seite 335-342 mit Spinozas Religionskritik (insbesondere seiner Kritik der Offenbarungsreligion) annimmt. Das Buch kenne ich aber nicht. Poliakov beschreibt die Zeit (die Rückkehr der Marranen zum Judentum/die Konflikte im Leben der Gemeinden /Sabbatianismus /usw) und es hört sich jetzt, weil aus der Zeit gerissen, vielleicht schlimmer an als es Poliakov meinte. Poliakov schreibt zum Beispiel auch, dass der junge Talmudschüler Spinoza die Grundlagen aller traditionellen Glaubensweisen erschütterte und zum Vorbild der „jüdischen Enthüller“ in der modernen Zeit werden sollte.

          Bisher habe ich unter anderem gelernt, Spinoza hält die Menschen für einen Teil der Natur und von dieser vollständig determiniert und von daher gibt es keinen freien Willen. Die Frage des freien Willens beschäftigt die Philosophie bis heute. Dostojewskis „Schuld und Sühne“ und der Dialog zwischen dem Mörder Raskolnikov und dem Richter über den freien Willen und die Verantwortung sind ein berühmter Meilenstein in dieser Frage.
          Mit der Libet-Studie soll angeblich der Beweis erbracht worden sein, dass es keinen freien Willen gäbe. Peter Bieri versucht in seinem lesenswerten Buch „Das Handwerk der Freiheit“ den bedingten freien Willen zu beweisen. Bieri schreibt in einer Fußnote oder am Ende seines Buches sinngemäß, dass er Sartre außen vor lassen musste, weil es den Rahmen gesprengt hätte. Ich habe zwar ähnlich wie bei Spinozas „Ethik“ bei Sartres fundamentalontologischen „Das Sein und das Nichts“ nach ein paar Kapiteln aufgegeben, aber viele seiner „einfacheren“ Bücher gelesen und von daher bin ich in der Frage des freien Willens und der Verantwortung noch etwas näher bei Sartre als bei Bieri.

          In der monotheistischen Religion wird die Verantwortung Gott übertragen und dieser Gott straft oder belohnt im Jenseits. Vermutlich ist dieser Glaube für bestimmte Gesellschaften auch notwendig, unabhängig vom Wahrheitsgehalt. In „Jenseits von Schuld und Sühne“, seinem Buch über Auschwitz beneidet der atheistische Jude Jean Amèry die Gläubigen.

          Ich frage mich, Jurek: Wie verantwortlich ist der Mensch in Spinozas Ethik wenn der Mensch keinen freien Willen hat (siehe Dialog Raskolnikov / Richter)? Wenn ich es nicht falsch verstanden habe, dann gibt es keinen allmächtigen Gott und kein Jenseits in Spinozas System, oder?

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      • 5. Januar 2017 10:25

        Wie gesagt: Spinozas Antwort ist kompliziert. Zunächst einmal ist die Frage nach dem freien Willen auch ein stark religiös gefärbtes Problem. Nach christlichem (und eigentlich auch islamischem) Dafür Halten hat Gott den Menschen den freien Willen eingegeben, das heißt Menschen können sich aktiv dafür entscheiden gegen den Willen Gottes zu handeln. In der Philosophie ist der freie Wille üblicherweise der Name für den anthropologischen Exzeptionalismus, dass Menschen als Subjekte außerhalb der Natur stehen oder diese überschreiten können. Spinoza verneint dies. Nicht einmal Gott kann gegen seine eigene Natur oder gegen die Naturgesetze handeln, zum einen weil Gott die Naturgesetze ist, zum anderen weil Menschen als Teil der Natur nicht gegen die Natur als solche handeln können. Marx hat das einmal so ausgedrückt: „Was gegen die Natur ist existiert nicht.“

        Wenn man also vom „freien Willen“ spricht meint man nicht die prinzipielle Entscheidungsfreiheit, sondern den Status des Menschen innerhalb des Systems der Natur. Heutzutage stellen sich diese Dinge wieder ein wenig andres dar, aber ich bleibe derweilen noch beim Widerspruch zwischen Spinoza und dem Subjektbegriff der Aufklärung.

        Spinoza geht es darum zu zeigen, dass Menschen ihre eigene Existenz und ihr Handeln, das von Trieben, Wünschen, Traumata, Leidenschaften und unbewussten Phantasien gesteuert wird als „freie Entscheidung“ betrachten, weil sie sich der Ursachen ihres Handelns nicht bewusst sind. Freud und Nietzsche haben hier ähnliche Positionen entwickelt. Auch Marx hatte solche Ideen, wenn er davon spricht dass Geschichte hinter dem Rücken der Akteure statt findet.
        Spinoza sagt also, dass Menschne nicht frei sind und auch keinen freien Willen haben, nicht weil sie nicht könnten, sondern weil sie in der Regel keine adäquaten Ideen über die Ursache ihres Handelns entwickeln. Wie man zu adäquaten Ideen kommt ist ein Thema des Beitrags, den ioh gerade schreibe.

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    • 1. Januar 2017 13:43

      Ibn Warrag, der große islamische Aufklärer, schreibt “warum ich kein Muslim bin“
      Vielsagend!

      Gutes neues Jahr 2017!

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  3. 15. März 2017 15:39

    Aus aktuellem Anlass und weil es so gut passt:

    „Die Verspottung der Religion hatte in den Niederlanden längst Tradition. Sie reicht bis in die Zeit Baruch Spinozas zurück, des grossen Philosophen, der hier lebte und wirkte. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhun­derts konnte sich denn auch keine Religion mehr hinter Blasphemieverboten verschanzen. Der niederländische Autor Gerard Reve, katho­lisch und homosexuell, erlaubte sich 1966 in einem seiner höchst ironischen Bücher, Gott als «mausgrauen einjährigen Esel» auftreten zu lassen, den der Erzähler in sein Schlafzimmer bugsierte und «dreimal nacheinander ausgie­big» von hinten nahm. In jedem anderen euro­päischen Land wäre Reve dafür ins Gefängnis gewandert, in den Niederlanden aber sprach man ihn von der Anklage der Gotteslästerung frei, und er wurde allseits gefeiert.

    Reve war ein grosser Schriftsteller, und die politischen Eliten liessen ihm die Freiheiten, die er sich anmasste – im niederländischen Kulturraum war so gut wie alles möglich ge­worden. Diese Zeiten sind vorbei. Vergleichbares über den Propheten Mohammed zu schreiben, wäre undenkbar. Und darin liegt der Kern des Unbehagens, das viele Niederländer in Bezug auf das multikulturelle Zusammenleben be­schlichen hat.

    Viele haben das Gefühl, durch die islami­schen Zuwanderer der Freiheit beraubt zu werden, sich über Heiliges lustig machen zu können – und damit die Trennung von Kirche und Staat zu untergraben. Gerard Reve wurde 1966 von Christen verklagt, aber man krümm­te ihm kein Haar. Heute denkt jeder Kolum­nist und jeder Kabarettist zehnmal nach, be­vor er sich einen Witz über Mohammed erlaubt. Muss man sich da wundern, dass viele das als Rückkehr zu mittelalterlichen religiö­sen Tabus erfahren?

    Das ist der Kontext, in dem sich die Nieder­lande heute bewegen, in dem Geert Wilders Anklang findet. Wilders gehörte als Politiker zunächst der konservativen Partei VVD an, sympathisierte dann aber zunehmend mit den Ideen Pim Fortuyns und trat nach dessen Tod sein ideologisches und kulturelles Erbe an.“ (Leon de Winter)

    http://www.achgut.com/artikel/zur_heutigen_wahl_die_urwunde_der_niederlaendischen_seele

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