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Eine kurze Geschichte des Zinses

17. Februar 2020

Das 17. Jahrhundert nannte man in den Niederlanden wegen der wirtschaftlichen und kulturellen Blütezeit, das „Goldene Zeitalter“. Mit steigendem Wohlstand wurden die aus der Türkei importierten Tulpen unter den wohlhabenden Niederländern immer beliebter, so erzielten seltene Sorten hohe Preise. Eine Zwiebel der Sorte Semper Augustus kostete im Jahr 1624 knapp 1.200 Gulden. Man konnte sich somit mit einer Zwiebeltulpe in Amsterdam ein Haus kaufen. Die Nachfrage aus ganz Europa war größer als das Angebot. Der anschließende Boom wurde mit Krediten finanziert. Mit der Zeit gingen keine Tulpen mehr über den Warentisch, es wurden nur noch Tulpenwertpapiere getauscht. Am Höhepunkt des Booms kostete die Semper Augustus 6.000 Gulden. Im Februar 1637 kam es zum Crash und die Tulpenpreise fielen ins Bodenlose und die wertlosen Tulpenscheine wurden in Staatsanleihen umgetauscht. Die Globalisierung, Derivate, Hedgefonds, BlackRock waren damals noch unbekannt.

Im Jahr 1873 brach die seit 1850 anhaltende stürmische Entwicklung des Kapitalismus abrupt ab. In Deutschland wurde der Boom durch Reparationszahlungen Frankreichs und den entstandenen neuen Märkten befördert. Im Jahre 1873 brachen die Finanzmärkte weltweit zusammen, der Ausgangspunkt der Krise von 1873 und der „Großen Depression“ war der Zusammenbruch des Kapitalmarktes für Eisenbahnaktien und die Erschöpfung des Eisenbahnbaus als „Strategischer Leitsektor“. Als so genannter „Gründerkrach“ wird der Börsencrash von 1873 bezeichnet, dem eine Überhitzung der Konjunktur durch eine galoppierende Industrialisierung vorausgegangen war. Nach der Gründerkrise verstaatlichte Bismarck die Eisenbahnen, denn sie waren systemrelevant für das Militär sowie für den Transport von Arbeitskräften und Waren. Bereits damals führte die Gründerkrise zu Verschwörungstheorien, welche in erster Linie der angeblich jüdischen Hochfinanz die Schuld an der Krise gaben. In dieser Wahrnehmung erfolgte bei diversen dubiosen Ökonomen dieser Zeit eine Trennung in einerseits das „raffende“ Finanzkapital und andererseits in das „schaffende“ Produktionskapital. Diese Trennung mit der entsprechenden Verteufelung des Zinses wurde bereits von Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) propagiert und später von Silvio Gesell (1862-1930) und den Nationalsozialisten um Gottfried Feder (1883-1941)  bis zu vielen aktuellen „Kapitalismuskritikern“ übernommen. Der „gute deutsche“ Fabrikbesitzer wurde während des Gründerkrachs dem „raffenden“, „gierigen“, „jüdischen“ Finanzkapitalisten entgegengestellt.

Bereits im 19. Jahrhundert wollte der Anarchist und Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865)  den Kapitalismus abschaffen, zugunsten einer „wirklichen Marktwirtschaft“ mit Äquivalententausch. Proudhon sah in der Herrschaft des Zinses das größte Übel des Kapitalismus. Gäbe es das zinstragende Kapital nicht mehr, so dachte Proudhon, dann wäre Not und Elend endgültig abgeschafft. 1849 versuchte Proudhon mit der Gründung einer „Volksbank“, mit zinslosen Krediten, sein Reformprogramm in die Praxis umzusetzen. Proudhon hatte großen Einfluss auf Georges Sorel (1847-1922), den Vordenker des Syndikalismus. Auf Sorel wiederum beriefen sich viele Intellektuelle des Leninismus als auch des revolutionären Syndikalismus, von denen einige zum Faschismus übertraten. Ebenfalls auf die Theorien Proudhons bezog sich Silvio Gesell (1862- 1920). Seine absurde Wirtschaftstheorie, die er in seinem 1911 erschienen Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ niederschrieb, sieht die Lösung der kapitalistischen Probleme in der Abschaffung des Zinses mittels Schwundgeld und Tauschkreisen. Mit der Einführung eines „Schwundgeldes“ wollte Gesell verhindern, dass Geld gehortet und Zins abgeschöpft wird. Das Geld verliert ständig an Wert und muss dadurch ausgegeben werden, heizt also die Wirtschaft an. Gesell kritisiert ausschließlich den Geldkreislauf (raffendes Kapital), die Produktion, das „schaffende Kapital“ ist im Gegensatz dazu für ihn positiv besetzt. „Der Chiemgauer“ ist Schwundgeld, mit dem im Chiemgau (Oberbayern), seit einigen Jahren in bestimmten Läden die Ware bezahlt werden kann. Die regionalen Betriebe sollen mit dem Regionalgeld gefördert werden. Die Herausgeber (Waldorfschule Prien) des Chiemgauers beziehen sich explizit auf Silvio Gesells Freigeld-Theorie. Unterstützt wird die Schwundgeld/Regionalgeld-Theorie zudem von Globalisierungskritikern aus „Attac“. Neben seiner Freigeld-Theorie warb Silvio Gesell in seiner Freiland-Theorie für Menschenzucht mit eugenischen Zielen: Im ersten Schritt soll das Privateigentum an Boden abgeschafft, um anschließend an den Meistbietenden verpachtet zu werden. Staaten, die sich der Freiland-Theorie nicht anschließen werden, ziehen die „Arbeitsscheuen“ der ganzen Welt an. Der Kranke und Schwache hat keinen Platz in Gesells sozialdarwinistischer Welt. Die „Fortpflanzung des Fehlerhaften“, gelte es durch „das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb bei der Auslesetätigkeit der Natur“ zu bekämpfen. Zu diesem Zweck, soll die fruchtbare Frau den Zugriff auf Grundrente und Boden nach Zahl ihrer Kinder erhalten. Frauen würden in speziellen Gemeinschaften ihre Kinder erziehen und von Zeit zu Zeit auf Reisen gehen, um eugenisch wertvolle Männer zu suchen und sich von ihnen erneut schwängern zu lassen. Durch dieses „Zuchtwahlrecht der Frauen“ werde es weniger Geburten geben, weil Frauen länger nach geeigneten Vätern suchen und nur „die Lebensbejahenden“ gebären. Die übrigen Frauen würden sich sterilisieren lassen und lohnabhängig sein. Das „Naturweib“ lässt bei der „Gattenwahl in geschlechtlichen Fragen ihre Wünsche und Triebe für die vererbungsfähigen Vorzüge den Ausschlag geben“. „Statt des wesenlosen politischen Wahlrechts, können sie dann das große Zuchtwahlrecht“ ausüben. „Die „Manchesterschule“, mit Ausnahme der Privilegien von Grund und Geldbesitzes, war auf dem richtigen Weg“ so Silvio Gesell.

Gottfried Feder (1883-1941) war der Wortführer der NSDAP Wirtschaftspolitik, bezog sich auf Gesell und schrieb 1927 das 25 Punkte Grundsatzprogramm der NSDAP, welches bis 1945 Gültigkeit hatte. In dieser Schrift steht auszugsweise: „Die Wirtschaft, ob groß oder klein, Schwerindustrie oder Kleingewerbetreibender, kennen nur ein Ziel: „Profit“, sie haben nur eine Sehnsucht: „Kredit“, nur eine Aufwallung: die „gegen die Steuern“, nur eine Furcht und namenlose Hochachtung: die „vor den Banken“ und nur ein überlegenes Achselzucken über die nationalsozialistischen Forderung der „Brechung der Zinsknechtschaft“. Alle drängen sich danach, „Schulden zu machen“. Die maßlosen Wuchergewinne der Banken, die ohne Müh und Arbeit, als Tribut vom Leihkapital erpresst werden, findet man durchaus in der Ordnung. Man gründet eigene „Wirtschaftsparteien“ und stimmt für die Dawesgesetze, die die Grundursache für die maßlosen Steuerlasten sind. Man stürzt sich in tiefe Zinsknechtschaft, schimpft über Steuern und Zinsen und erstirbt vor Hochachtung vor jedem Bankier und Börsenpriaten. Verwirrt sind die Hirne! Die Ganze Wirtschaft ist entedelt, entpersönlicht, in Aktiengesellschaften umgewandelt worden. Die Schaffenden haben sich selbst ihren größten Feinden in die Hände gegeben, dem Finanzkapital. Tief verschuldet, bleibt den Werteschaffenden in Werkstatt, Fabrik und Kontor nur karger Lohn, jeder Gewinn der Arbeit fließt in die Taschen der anonymen Geldmacht als Zins und Dividende.“ Wie Gesell und Proudhon unterschied die NSDAP zwischen gutem „schaffenden und bösem raffenden Kapital“, dem „internationalen Finanzjudentum“.

Die nationalsozialistischen Kapitalismuskritiker waren davon überzeugt, dass mit der „Brechung der Zinsknechtschaft“, der Verstaatlichung der Banken und der Abschaffung des Zinses alle „Probleme“ des Kapitalismus beseitigt wären. Als  Hitler 1940 auf dem Höhepunkt seiner  Macht, als die Zustimmung seiner Politik so groß wie nie zuvor war, kam der Propagandafilm Jud Süß in die deutschen Kinos. Die 19 Millionen Besucher von „Jud Süß“ wurden nicht gezwungen diesen Film anzusehen, sie wollten den Film sehen weil sie entsprechend fühlten und dachten. Der antisemitische  Propagandafilm spielt am Hofe des Königs von Württemberg. Dieser König kam in zunehmende Finanzschwierigkeiten und stellt sich den jüdischen Finanzberater Joseph Süß ein. Der geldgierige Joseph Süß, in dem Veit Harlan-Film, ein verschlagener hochraffinierter Jude der alle Finanztricks beherrscht, rettet den König in dem er mit seinen Tricks die Bevölkerung ausbeutet und dadurch immer mächtiger und einflussreicher wird. Das Geld wird der Masse der ehrlich arbeitenden Bevölkerung genommen. Es kommt dadurch zu sozialer Verelendung und zu Massendemonstrationen. Das Gegenbild zu der jüdischen Raffgier ist in dem Film die ehrliche deutsche Arbeit, die durch den Schmied mit seiner züchtigen Hausfrau symbolisiert und dessen Haus durch die  Finanzpolitik von Jud Süß zerstört wird. Der Widerstand der Bevölkerung wächst. Der gute ehrlich arbeitende Held mobilisiert die Massen und bringt die Wende. In der Schlüsselszene des Films ruft er den Massen zu: “Wie die Heuschrecken fallen sie über uns her“.  Nachdem der Jude gehängt wird, entspannt sich die Lage und die Menschen haben wieder eine glückliche Zukunft vor sich. Die Heuschreckenmetapher verwandte Alfred Rosenberg im „Völkischer Beobachter“ bereits am 29. Mai 1921: „Aber schon sehr bald zeigte es sich, dass alle Anlockungen durch Vorzugsrechte nicht recht anschlugen, dass der größte Schwarm der jüdischen Heuschrecken nach Amerika zog, der andere, nach Palästina abgefahrene Teil aber nicht recht arbeiten wollte, sondern von den Millionen zu zehren vorzog, die jüdische Milliardäre zur Organisation Palästinas ausgeworfen hatten“.

In Wahrheit sind die kapitalistischen Krisen von zyklischer Natur, sie gehören quasi zur Normalität kapitalistischer Entwicklung. Karl Marx (1818 – 1883) kritisierte im 3. Band des Kapitals die sich auf die „Zirkulationssphäre“ verkürzte „Kapitalismustheorie“ Proudhons vernichtend und machte ihn lächerlich. Die Kritik von Marx bezog sich auf das hochkonzentrierte Produktionskapital selbst und damit die kapitalistische Produktionsweise als solche. Der britische Ökonom John Maynard Keynes war der festen Auffassung der Staat müsse sich in Krisenzeiten mit Steuersekungen, Transferleistungen und staatlichen Investitionen verschulden (deficit spending) um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Nach dem Vorbild des Ökonomen Keynes versuchten und versuchen Regierungen unterschiedlichster Couleur mit gepumptem Geld die Abschwünge zu bremsen in der Hoffnung  im Aufschwung das Geld wieder zurückzubekommen. Die aktuellen weltweiten Schuldenkrisen sind auch ein Resultat dieser Politik. Während immer mehr erfolglose Unternehmer vom Staat Geld haben wollen explodieren die Staatsschulden. Weil Staaten nichts produzieren, haben sie kein Kapital, sie können kein Kapital schaffen, sondern lediglich das vorhandene umverteilen.

Nikolai D. Kondratjew (1892-1938) war ein sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler und gilt als einer der ersten Vertreter der zyklischen Konjunkturtheorie, er beschrieb die in langen fünfzig bis sechzigjährigen Wellen verlaufenden Schwankungen der Weltkonjunktur. Kondratiew setzte sich in der Sowjetunion für die Erhaltung marktwirtschaftlicher Strukturen in der russischen Landwirtschaft ein. Das wurde ihm zum Verhängnis, denn im Zuge der „Großen Säuberung“ unter Stalin  wurde er 1930 wegen antikommunistischer Agitationen verhaftet, nach Sibirien deportiert und am 17.9.1938 zum Tode verurteilt und am gleichen Tag hingerichtet. Laut Kontratjew sind Paradigmenwechsel der Ausgangspunkt für die „Langen Wellen“, denn am Beginn eines langfristigen Wirtschaftsaufschwungs steht eine neue, umwälzende Technik, die positive tief greifende Veränderungen in der Wirtschaft bewirkt.  Nachdem sich die Innovation durchgesetzt hat, verringern sich die Investitionen und es kommt erst nach vielen Jahrzenten wieder zum Abschwung.

Nach zwei Weltkriegen und nach der schweren Depression von 1929 folgte das „Wirtschaftswunder“, denn nach den gigantischen Zerstörungen des 2. Weltkrieges setzte ein exorbitanter Nachkriegsboom ein. In diesem fordistischen Nachkriegsboom, vor allem das „Wirtschaftswunder“ Deutschlands in den 1950er Jahren sei hier erwähnt, wurden bis in die 1970er Jahre Millionen von neuen Arbeitskräften benötigt um Massen von Waren herzustellen, welche die Arbeiter und Angestellten durch Vollbeschäftigung mit ihren Löhnen tatsächlich kaufen konnten. Nach der Sättigung der Märkte und den damit verbundenen ungeheuren Rationalisierungsmaßnahmen wurden immer weniger Menschen gebraucht um die Waren zu produzieren, die immer weniger Leute kaufen wollten oder konnten. Nach der Vollbeschäftigung in den 1970er Jahren stieg die Arbeitslosigkeit 1980 in Deutschland von 0,9 Millionen auf 3,3 Millionen im Jahre 1995 und auf über 6 Millionen im Jahr 2005.

Zeitgleich zwangen die Ölkrise und der Vietnamkrieg die finanziell angeschlagenen USA 1973 zur Kündigung von Bretton-Woods, der Goldeinlösegarantie des Dollars. Durch den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods  begann eine neue Periode in der Geschichte des Kapitalismus.  Die realökonomischen Widersprüche konnte durch Konjunkturprogramme, Staatsinterventionen und keynesianische Regulation nicht verhindert werden.  Erst die zunehmende Liberalisierung der Finanzmärkte unter Ronald Reagean und später Gerhard Schröder und die monetaristische Politik der Neoliberalen boten eine Lösung, zumindest einen Aufschub.  Das Kapital, das in der Realwirtschaft keine rentable Anlagemöglichkeit mehr fand, konnte in den Bereich des „fiktiven Kapitals“ ausweichen. Die Krise wurde aufgeschoben, und der Neoliberalismus wurde zum weltweiten Programm. Anfang der 1980er Jahre setzten die großen Schuldenkrisen in den Entwicklungsländern ein. 1987 kam es zu einem erneuten Börsencrash. Anfang der neunziger Jahre gerieten die USA und Japan in eine Immobilien- und Bankenkrise. 1992 kam das Europäische Währungssystem ins Wanken. Währungs- und Wirtschaftskrisen gab es 1994/ 95 in Mexiko, 1997/98 in Asien, 1998 in Russland und 1999 in Lateinamerika. 2000 begann der weltweite Börsenkrach, darauf folgten der amerikanische Immobilienboom, das Platzen der Immobilienblase, die Weltwirtschaftskrise ab 2007, der  Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers und die jetzigen Schuldenkrisen der „wohlhabenden“ Industrieländer.  Im ständigen Platzen der Finanzblasen wird nichts anderes sichtbar als das verdrängte und kumulierte Krisenpotential von vier Jahrzehnten. Die gigantische Finanzblasen, die gigantischen Schuldenberge der Staaten sind nicht Ursache, sondern Wirkung der Krise des Fordismus, die einen qualitativen Einbruch in der kapitalistischen Geschichte markiert.

Immer mehr Geld strömte seit den 1980er Jahren in die Finanzmärkte, wohin sollte es denn auch sonst strömen? Die mit spekulativen Finanzoperationen erzielten Gewinne waren und sind längst ein wichtiger Posten im Haushalt von Privatleuten, Staaten und Unternehmen. Ohne diese Gewinne an den Finanzmärkten wären die Weltwirtschaft und die Produktionswirtschaft längst zusammengebrochen. Der spekulative Finanzsektor alimentiert den immer „unrentabler“ werdenden Bereich der Produktion, der spekulative Sektor generiert für die Produktion dringendst nötiges frisches Geld. Finanzspekulationen sind heute mehr denn je nicht mehr von den ökönomischen Vorgängen in der Produktion und in der Dienstleistung zu trennen. Würde man die Spekulation verbieten, funktionierte die Weltwirtschaft und die Produktionswirtschaft längst nicht mehr.  Die bis heute andauernde Euro- und Schuldenkrise hat nur sekundär etwas mit den Banken zu tun. Deutschland als Exportweltmeister will seine Waren im Ausland verkaufen. Griechenland, die entsprechenden Euroländer, die USA, sowie die Schwellenländer kauften ihre deutschen Waren auf Kredit. Die diversen Banken gaben die Kredite, damit Deutschland seine Waren verkaufen konnte. Deutschland konnte seine Waren auf dem Weltmarkt so gut verkaufen, weil die Reallöhne in Deutschland im Vergleich zu den Euroländern relativ gering sind.

Nachdem unter der Rot-Grünen Regierung die Deregulierung der Kapitalmärkte massiv fortgesetzt wurde, bemühte Franz Müntefering wieder die Heuschrecken-Metapher um gegen Hedgefonds und das Finanzkapital zu agitieren.  Ver.di übernahm ebenfalls das Bild der Heuschrecke und gab das  Flugblatt „Finanzkapitalismus – Geldgier in Reinkultur“ heraus. Ein Prozent der Menschheit ist für die Occupy-Bewegung  an der Krise schuld, ein Prozent bereichert sich auf geheimnisvolle Weise an der Arbeit aller anderen, ein Prozent kontrolliert Regierungen und sorgt für böse Kredite, Zinsen und Schulden. Die Nazis sprachen von “Zinsknechtschaft” und Jürgen Elsässer  spricht heute bei Occupy-Veranstaltungen von “Schuldknechtschaft”. Müntefering, die IG Metall und der überwiegende Teil der Occupy-Bewegung sind keine Nazis, aber ihre verkürzte, personalisierte Kritik am Kapitalismus ist gefährlich, denn wenn vermeintlich einige Wenige das Elend der Vielen verursachten, dann ist es bis zum Schritt der Eliminierung der „Bösen“ nicht mehr weit.

Der in anderen Spären schwebende Schlagersänger Christian Anders ist ein großer Anhänger Silvio Gesells und auch der völkische Querfrontmann Jürgen Elsässer schwärmt von Regionalgeld. Die rechtsextreme DVU beantragte im brandenburgischen Landtag 2007, die Regionalgeld-Gruppen im Land zu unterstützen und Marina Weisband von den Grünen fand Experimente mit Regionalgeld wichtig. Oskar Lafontaine entdeckte 2006 Schnittmengen mit dem Islam wegen dessen Zinsverbot (Zinsen werden bei „schariakonformen“ Anlagen nur nicht so genannt) und der Gesellianer und Volkswirtschaftsprofessor Bernd Senf debattierte 2002 im Rahmen der Berliner Islamwoche als Vertreter von Attac Deutschland über die kritische Haltung zum Zins in Christentum und Islam sowie bei Silvio Gesell. Die Anhänger der Schwundgeld-Phantasien sehen in den nun seit vielen Jahren andauernden Null-Zins-Zeiten, die sich mittlerweile schon in Negativ-Zins-Zeiten verwandeln, lächerlicher aus als je zuvor, mindestens so lächerlich wie die „schariakonformen“ Finanzprodukte. Die wichtigste Finanzierungsform islamischer Banken ist Murabaha. Ein frommer Kunde will beispielsweise ein neues Auto. Die „schariakonforme“ Bank kauft das Auto und verkauft es dem Kunden zu einem höheren Preis weiter, den der Kunde in Raten zurückbezahlt. Ein Auto beispielsweise das 30.000 Euro kostet wird für 33.000 Euro weiterverkauft, die in Raten abbezahlt werden, der Kunde zahlt also 10 Prozent Zins für den Kredit, der aber nicht so genannt wird und deshalb ist er halal, also erlaubt.

Seit es Geld gibt wird es gegen Zins ausgeliehen. Privatleute, vor allem aber große Unternehmen und Staaten, leihen sich direkt bei den Geldbesitzern Geld und versprechen dafür eine feste jährliche Zinszahlung sowie die Rückzahlung des geliehenen Geldes zu einem festen Termin. Unternehmen können sich am Kapitalmarkt Geld nicht nur über Anleihen, sondern auch über die Ausgabe von Aktien beschaffen. Geldbesitzer erhalten im Tausch für ihr Geld ein Wertpapier. Allerdings trägt der Kreditgeber ob nun Aktionär oder eine Bank das volle Risiko des Kreditausfalls. Geht das Unternehmen Konkurs, ist auch das geliehene Geld weg. Die zirkulierenden Ansprüche, wie Wertpapiere oder Aktien nennt man spekulativ angelegtes Kapital oder eben „fiktivesn Kapital.“ Aus sozialer Nächstenliebe und für ein Butterbrot verleiht keine Bank Geld, werden keine Wohnungen von Immobienkonzernen gebaut, arbeitet niemand für seinen Arbeitgeber, bezahlt kein Arbeitgeber Lohn für keine Leistung. Ohne Gewinn wird kein Unternehmen mittelfristig existieren können. Die Wirtschaftskrisen zeichnen sich durch den Widerspruch zwischen Überangebot und mangelnder Nachfrage aus. Eine Marktwirtschaft ohne Streben nach Maximalprofit und ohne fiktives Kapital war, ist und bleibt so undenkbar. Die so genannte Realwirtschaft und die Finanzsphäre können nur zusammen gedacht, kritisiert und somit die Probleme gemildert oder in Einzelfällen gelöst werden. Der Neoliberalismus war die Reaktion auf das Auslaufen des Fordismus, in dem Arbeitnehmerinteressen zurückgedrängt, staatliche Unternehmen privatisiert sowie eine Umverteilung von unten nach oben organisiert wurden. Ein großer dritter Krieg mit einem Zerstörungspotential des zweiten Weltkrieges mit einem entsprechenden Aufbauboom könnte eine Wiederholung der Geschichte sein, humaner wäre eine Währungsreform, kluge Investionen und diverse krisenabmildernde Maßnahmen. Gegen eine Finanztransaktionssteuer oder eine Entflechtung der Großbanken ist wenig einzuwenden, die Weltwirtschaftkrisen oder die Schuldenkrisen der entsprechenden Länder werden allerdings dadurch nicht verhindert. Der Rückfall in alte Muster, das Ausmachen von Sündenböcken wird kein Problem lösen, im Gegenteil ohne „fiktives Kapital“ gibt es keinen Tag länger die Realproduktion. Den Selbstzerstörungskräften der freien Marktwirtschaft sollte freilich keinesfalls ungebremst der freie Lauf zugestanden werden. Verbesserte Rahmenbedingungen für genossenschaftliche Unternehmen, ein höherer Spitzensteuersatz, höhere Löhne, eine dosierte Arbeitszeitverkürzung, würden zwar dem Wirtschaftsstandort Deutschland, seinen Status des Exportweltmeisters minimal gefährden, wären jedoch Schritte in eine richtige Richtung und schlecht ausgehandelte Zölle können durchaus noch einmal auf den Prüfstand. Eine staatlicherseits geförderte Revolutionierung der Mobilität, beispielsweise mittels der Brennstoffzelle wäre nicht die schlechteste der vorhandenen Möglichkeiten.

Gleichzeitig veröffentlicht bei Fisch & Fleisch

12 Kommentare leave one →
  1. Steve permalink
    17. Februar 2020 13:53

    Chapeau! – Großartig! Ich kann die Spekulantenhetze im Namen der geradezu wunderbaren „Marktwirtschaft“ schon lange nicht mehr hören.

    Gefällt 4 Personen

  2. 17. Februar 2020 16:53

    Super Beitrag. Vor allem weil er die Abneigung gegen den Zins in den Mittelpunkt stellt.
    Die Polemik gegen das Geld hat sich nicht nur, aber meistens als anti-semitisches Ressentiment geäußert, wenn das Unbehagen über die eigene Machtlosigkeit im Systemzusammenhang auf irgendeine Weise kompensiert werden mußte.

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  3. 17. Februar 2020 17:25

    Als vor 15 Jahren eine Teilprivatisierung des Hamburger Hafens zur Debatte stand, raunzte der lokale Verdi-Landesbezirksleiter: „Wir werden nicht zulassen, dass fremde Mächte oder das internationale Finanzkapital sich die Lebensader Hamburgs unter den Nagel reißen.“
    Wird immer schwieriger zwischen rechts und links zu unterscheiden.

    Meinen Vorrednern schließe ich mich jedenfalls an: Klasse Beitrag.

    Gefällt 2 Personen

  4. 18. Februar 2020 15:19

    Zu den lustigeren Episoden gehören schon die schariakonformen Finanzprodukte.Wahrscheinlich zahlen die Komiker auch noch ihre Unterhosen mit schariakonformen Kreditkarten

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  5. 19. Februar 2020 10:14

    Das „Schuldgeldsystem“ oder die „Zinsknechtschaft“ sind genuin rechtsextreme Themen. in einem Beitrag über Volker Pispers, den ich vor Jahren geschrieben habe, ist mir das aufgefallen. Pispers, der mit seinen Tiraden gegen die Heuschrecken auch bei Nazis sehr beliebt ist, vermeidet aber den direkten Konnex zum Anti-Semitischen. (Obwohl ihn das nicht sympathischer macht.)

    https://dieweltohneuns.wordpress.com/2012/05/30/gesindel-schmarotzer-und-parasiten-uber-den-kabarettisten-volker-pispers/

    Wenn man die linke Variante dieses Diskurses anschaut, z.B. David Graeber und sein Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, dann erkennt man dass der politische Impetus sich zwar unterscheidet, aber das Ressentiment dasselbe ist. Die Hoffnung, dass sich der Schulden und des „Schuldgeldsystems“ wegen der Kapitalismus auflöst ist die Hoffnung des Trotzkisten und des Nazis.

    Zu David Graeber und seinem habituellen Stalinismus sollte man dies lesen:

    https://quillette.com/2019/09/09/the-anarchist-and-the-anthropology-journal/

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    • 19. Februar 2020 11:27

      Volker Pispers ist tatsächlich ein Prototyp der Gegen-Aufklärung und ein Beispiel für verkürzte Kapitalismuskritik und seinen Humor verstehe ich auch nicht.Du schreibst: Volker Pispers gibt gerne den Kritiker der Heuschrecken. In „Berufsgruppen, die die Welt nicht braucht“ zieht er über Aktienanalysten („das widerlichste Pack was dieser Planet bis dato hervorgebracht hat…), Börsenmakler („meine Lieblingschmarotzer“) und Consultingagenturen („Parasiten“, „Gesindel“) her, in einer Wortwahl, mit der er jedem Nazi offenbar aus der Mördergrube seines Herzens spricht.

      In der gleichen Liga wie Pispers spielt der „Kabarettist“ Georg Schramm.

      Georg Schramm bewies sein Gespür für den Zeitgeist, als er am 12. November 2011 vor dem Frankfurter Sitz der europäischen Zentralbank im zinskritischen Zeltlager von “Blockupy Frankfurt” eine Rede hielt, in der er unter anderem meinte: „Wenn Gott seine Welt liebt und die Menschen auch und wenn er ein alttestamentarischer, zorniger Gott ist, dann war sein Timing für die Katastrophe perfekt […]. Wenn die Kernschmelze [im Finanzbereich] solche Folgen hätte wie Fukushima, her mit der Kernschmelze! […] Ich habe übrigens den Begriff des zornigen Gottes gewählt, weil es ein Klassiker ist [!], die jungen Leute hier können das nicht wissen. […] Das ist lange her, das war zu den Zeiten, wo die Päpste noch nicht mit der Macht liiert waren und noch gegen den Zinswucher [!] gepredigt haben. Papst Gregor hat damals gesagt, die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht. […] Für alle, die missmutig sind, dass ich hier Päpste zitiere, das kann ich im Prinzip verstehen, sei darauf hingewiesen: Das bis zu Beginn der Mittelalters nicht nur die katholische Kirche, sondern das überhaupt alle Weltreligionen immer über viele Jahrhunderte den Zinswucher als einer der größten Sünden bezeichnet haben. Die katholische Kirche ist erst dann davon abgerückt, als sie mit den ersten Banken die es gab, nämlich mit den katholischen Banken, angefangen hat, damit Geld zu verdienen. Erst dann ist es schief gegangen. Früher war der Banker noch Geldverleiher, diesen Ruf, diesen gesellschaftlichen Status […] sollten wir ihm wieder besorgen! Es war ein unehrenhafter Beruf, den ein ehrbarer Mensch nicht ausüben wollte und die Nonnenmacher und Ackermänner dieser Erde mussten den Dienstboteneingang nehmen um ins Schloss der Mächtigen zu kommen.“

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      • 19. Februar 2020 11:48

        Historisch betrachtet ist nicht alles falsch, was er sagt.

        Banken sind tatsächlich eine Erfindung der katholischen Kirche. Und als die Päpste begannen Kredite zu vergeben, holten sie unter anderem zahlreiche Juden, die als Marrannen in Portugal und Spanien gelebt hatten, nach Italien, um von ihnen die zahlreichen Details von Buchhaltung und Zinsmanagement übernehmen zu lassen. Die Aufgabe der Rede vom „Zinswucher“ und der Einstieg ins Kredit und Bankengeschäft war eine große progressive Tat des Papsttums, die die Emanzipation der Juden maßgeblich beeinflußte.

        Es scheint oft so, dass Linke die vom „Zinswucher“ reden einfach nur den letzten Schritt nicht gehen und die Juden auslassen, was Rechtsextreme dann natürlich tun, aber das Ressentiment ist exakt dasselbe.

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