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In memoriam Berthold Simonsohn

3. Januar 2015

bsDurch sein lebenslanges soziales Engagement war der Jurist, Pädagoge, Hochschullehrer, Sozialist und Zionist Berthold Simonsohn eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit. Als verfolgter Jude wurde er während des Nationalsozialismus nach Theresienstadt deportiert und überlebte fünf Konzentrationslager. Er kehrte nach Deutschland zurück und baute die Zentralwohlfahrtsstelle für Juden wieder auf, die er bis 1961 leitete. Als Professor für Sozialpädagogik und Jugendrecht an der Universität Frankfurt am Main setzte er sich für die Reform des Jugendrechts und des Jugendstrafvollzugs ein. Zur Herausbildung der Neuen Linken trug neben Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse auch der linksintellektuelle 68er Berthold Simonsohn bei.

Berthold Simonsohn wurde am 24. April 1912 in Bernburg an der Saale geboren. Er wuchs mit seinen Geschwistern Carl und Ilse in behüteter Atmosphäre auf. Vater Alfred war Kaufmann und Bertholds Mutter Sidonie, geborene Fried, war die Schwester des späteren Nobelpreisträgers Alfred Fried.

Kurz nach seinem Abitur widmete sich Simonsohn stärker als zuvor  dem „Bund Jüdischer Jugendgruppen“ und wurde bereits 1930 der zweite Vorsitzende des Bezirksverbandes Mitteldeutschlands. Nach der Machtergreifung Hitlers änderte sich die Lage der jüdischen Jugend grundlegend. Durch die Ausgrenzung erhielten die, ideologisch sehr unterschiedlichen, jüdischen Jugendverbände enormen Zulauf. Simonsohn trat 1935 dem zionistisch-sozialistischen Jugendbund „Haschomer Hazair“ bei, ein auf Auswanderung gerichteter chaluzischer Bund mit dem Ziel der Organisation des Kibbuz-Arbeitslebens in Palästina. Der Bund stand dem deutschen Kommunismus ablehnend gegenüber. Bereits 1927 wurde der Kibbuz Arzi in Palästina mit vier Kibbuzim und 256 Chaverim durch den „Haschomer Hazair“ gegründet. Bis 1934 wuchs die Zahl auf 29 autonome Kibbuzim mit insgesamt 2.000 Mitgliedern an. Wie alle jüdischen Organisationen hatte auch der „Haschomer Hazair“ unter den zunehmenden Schikanen der Nazis zu leiden. Eine Auswanderung war nur möglich wenn eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildung vorzuweisen war. Simonsohns Bruder Carl, der zur Auswanderung entschlossen war, machte deshalb eine Schuhmacherlehre (besser ein Anlernverhältnis), bereitete sich auf das Leben im Kibbuz vor und stellte einen Antrag auf ein Zertifikat für die Einreise in Palästina. Handwerkerzertifikate wurden vom britischen Konsulat in Berlin vergeben. Obwohl die Chancen nicht sehr hoch waren, da neben einer achtjährigen Berufspraxis es nur eine begrenze Anzahl von Zertifikaten gab, bekam Carl 1936 das benötigte Dokument, da jedoch die Gefahr einer Einwanderungssperre  durch die britische Mandatsregierung drohte, war Eile geboten. Bevor Carl Deutschland mit seiner Frau Karen verließ, verabschiedete er sich von seinen Eltern und Geschwistern in Bernburg.

Ende 1933 wurde Simonsohn, der mittlerweile Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands war und sich im Widerstand engagierte, von der Gestapo unter dem Verdacht des Landesverrates festgenommen, aber wegen fehlender Beweise kurz darauf wieder freigelassen. Zum juristischen Staatsexamen war er als Jude nicht zugelassen, jedoch war es ihm trotz großer finanzieller Schwierigkeiten noch möglich, das Studium in Halle und Leipzig mit der Promotion in Jura 1934 abzuschließen. Nachdem Bruder Carl, der ebenfalls in der SAP aktiv war und Bertholds bester Freund Werner Borchardt nach Palästina in ein Kibbuz auswanderten, übernahm er, obgleich auch er hätte emigrieren können, die Geschäftsführung in der Kunstblumenfabrik des kranken Vaters, deren Niedergang aufgrund des Boykotts jüdischer Geschäfte nicht aufzuhalten war. Ab 1938 war er Bezirksfürsorger der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden in Stettin. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er in das KZ Sachsenhausen eingewiesen. Nach seiner Entlassung zog er nach Hamburg, wo er Bezirksfürsorger für Nordwestdeutschland bei der Reichsvereinigung der deutschen Juden war. In Hamburg lebte Berthold Simonsohn mit seiner Mutter Sidonie und seiner Schwester Ilse, der Vater Alfred war inzwischen verstorben. Von der bevorstehenden Deportierung benachrichtigte er  seinen Bruder Carl in Palästina in verschlüsselter Formulierung, der über das Rote Kreuz übermittelte Brief durfte nicht mehr als fünfundzwanzig Worte enthalten: „Senden euch herzlichste Grüsse vor der Reise. Wir sind tapfer und zuversichtlich. Lebt wohl und hofft mit uns auf baldiges Widersehen. Grüsst alle Freunde.  Herzlichst Bertl, Mutti, Ilse.“  Bevor Simonsohn mit seiner Mutter und Schwester nach Teresienstadt deportiert wurde, war ihr ganzes Vermögen beschlagnahmt worden. Sidonie Simonsohn war 62 Jahre alt als sie mit ihren Kindern deportiert wurde, zwei Jahre später ist sie schwer erkrankt und am 8. August 1944 gestorben. Schwester Ilse blieb bis Februar 1945 in Theresienstadt und hatte das Glück mit 1.200 weiteren Personen in die Schweiz auszureisen. Im Ghetto Theresienstadt lernte Simonsohn seine spätere Frau Trude Guttmann kennen gelernt, die im tschechischen Widerstand der zionistischen Jugendbewegung engagiert war. In Theresienstadt haben von den insgesamt 155.000 Juden 117.000 Juden die Gefangenschaft nicht überlebt.

Trude Guttmann, geboren 1921 in Olmütz, war Mitglied einer zionistischen Jugendgruppe. Am 1. September wurde ihr Vater verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht, später nach Dachau, wo er 1942 starb, ihre Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Als Berthold Simonsohn am 19. Oktober 1944 für einen Transport in den Osten vorgesehen war, wollte Trude Guttmann nicht alleine in Theresienstadt zurück bleiben und meldete sich für den gleichen Transport. Ziel war das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie am 22. Oktober ankamen. Trude, mittlerweile mit Berthold Simonsohn verheiratet, kam nach einigen Tagen in ein kleines Lager bei Breslau und überlebte den Holocaust. Berthold Simonsohn dagegen wurde weiter deportiert, zunächst nach Kaufering. Über die Fahrt von Auschwitz nach Kaufering schrieb Berthold Simonsohn: „Ich kam 4 Tage danach, nach einer qualvollen Fahrt, in einem Güterwagen mit siebzig vor Hunger fast rasenden Menschen zusammengesperrt, in das Lager Kaufering III, einem Außenlager von Dachau.“ Trotz schwerster Zwangsarbeit bei völlig unzureichender Ernährung und großer Kälte in den kaum beheizten Unterkünften überlebte er. Bei dem Herannahen der amerikanischen Truppen mussten die Häftlinge einen dreitägigen Marsch nach Dachau-Allach antreten. „Am 30. April nach bangen Stunden die Befreiung und wieder ein 1. Mai wie wir ihn einst gewohnt waren.“ Er gehörte zu der kleinen Zahl deutscher Juden, die diese Todesmärsche und Deportationen überlebten.

1951 hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland beschlossen, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland wieder zu gründen und Berthold Simonsohn als geschäftsführenden Direktor mit dieser Aufgabe zu betrauen. So kehrte Berthold Simonsohn zunächst zu seiner früheren Tätigkeit zurück, die er bis 1961 ausführte. Simonsohns lange gehegter Wunsch, als Wissenschaftler und Hochschullehrer zu arbeiten, erfüllte sich 1962. In diesem Jahr wurde er zum Professor für Sozialpädagogik und Jugendrecht an die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt berufen. Er wurde zu einem der wesentlichen Fürsprecher einer Liberalisierung des Jugendstrafrechts. Es war Berthold Simonsohn, der die in Deutschland von den Nationalsozialisten zerstörte Tradition einer psychoanalytischen Pädagogik wiederbelebte. 1963 wurde Simonsohn in das Kuratorium der „Deutsch-Israelischen Studiengruppe“ in Frankfurt berufen, dem unter anderen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und Max Horkheimer angehörten. Mit seinen Aktivitäten in verschiedenen Gesellschaften und der Organisation von Reisen nach Israel war Simonsohn der Wegbereiter für den Aufbau von diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Heinz Joachim Heydorn, einem Widerstandskämpfer, Wehrmachtsdeserteur und Sozialisten, setzte sich Simonsohn für die Belange des Staates Israel ein. Bis 1967 galt im reformorientierten linken Spektrum ein pro-israelischer Konsens für den “Pionierstaat” Israel mit seinen sozialistischen Kibbuzim. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 änderte sich die Haltung mit der neu entstandenen „Neue Linken“ und ihrer antiimperialistischen Orientierung grundlegend. Mit dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg galt der Judenstaat für viele dieser Linken als US-amerikanischer imperialistischer „Brückenkopf“ im Nahen Osten. Auch im Förderkreis linker Intellektueller, die den damals aus der SPD ausgeschlossenen SDS unterstützten und dessen Mitglied Simonsohn war, schieden sich nach dem Junikrieg des Jahres 1967 die Geister. Es begannen die Auseinandersetzungen, die vielen Linken  den Vorwurf eines als Antizionismus getarnten Antisemitismus eintrug. „Wenn Springer für Israel ist, können wir nur dagegen sein“, schlussfolgerten Anhänger der aufkommenden Studentenbewegung. Die Spaltung der Neuen Linken war vorprogrammiert. Im September 1967 gehörte der SDS zu den ersten linken deutschen Organisationen, die einen radikal antizionistischen Kurswechsel vornahmen.

Simonsohn versuchte während des Sechstagekrieges für Israel politische Unterstützung der Linken in Deutschland zu mobilisieren und hatte sich deshalb an den Professor für Politologie in Marburg, Wolfgang Abendroth gewandt, um ihn und durch ihn auch den Sozialistischen Bund für eine Solidaritätsbekundung für Israel zu gewinnen. In einem offenen vierseitigen Brief an Berthold Simonsohn antwortete Wolfgang Abendroth:

„Auch bei dem gegenwärtigen Präventivkrieg muss daher Israel kein nur den Feudalherren der monarchischen arabischen Staaten, sondern vor allem der Bevölkerung der im wesentlichen progressiven republikanischen Militärdiktaturen als Vortrupp amerikanischer imperialistischer Interessen erscheinen. Deshalb ist eine Identifikation des sozialistischen Internationalismus in den kapitalistischen Staaten mit der gegenwärtigen Politik Israels bei aller Sympathie für die israelische Bevölkerung völlig unmöglich. Das heißt natürlich nicht, dass man sich mit der nationalistischen Hysterie der arabischen Ländern identifizieren könnte. Sie würde im Gegenteil wachsen, wenn auch sozialistische Parteien Europas oder die offizielle Politik der BRD sich an die Seite Israels stellen würde. Im Weltmaßstab gesehen ist leider eine Situation entstanden, in der die Gesamtinteressen der kolonialen Revolution, der sozialistischen Länder und auch des revolutionären Flügels der internationalen Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Staaten stärker mit dem der arabischen Staaten (nämlich Ägypten, Syrien und Algerien, nicht der Fürstenstaaten) als mit den Interessen Israels übereinstimmen.“ Zeitgleich hatte der Vorstand des SDS eine Erklärung abgegeben in der er sich mit den arabischen Staaten solidarisch erklärte. Wolfgang Abendroth unterstützte die antiisraelische Erklärung des SDS als „völlig richtig“.

Am 9.6.1967, noch während des Sechstagekrieges, macht Berthold Simonsohn mit seiner Antwort an Abendroth kein Hehl aus seiner Enttäuschung:

„Lieber Genosse Abendroth,

besten Dank für deinen ausführlichen Brief vom 6.6. Leider ist die Ausführlichkeit das einzige, wofür ich Dir zu danken habe. Deine einseitige undialektische und unhistorische Betrachtungsweise, die Du leider mit vielen Linken teilst, hat mich tief enttäuscht. Es gibt sozusagen keinen einzigen Satz deines Briefes, dem ich zustimmen könnte. Warum beginnt Ihr eigentlich alle bei der Behandlung dieses Problems mit dem Jahre 1956? Wenn überhaupt, beginnt das arabisch-jüdische Problem mit dem Jahre 1948. Damals entstand angesichts der außerordentlichen Leiden des jüdischen Volkes der Staat Israel, wohl als einziger durch einen Beschluss der UNO. Wie du weißt, stimmte die Sowjet-Union diesem Beschluss zu (…) Als Antwort auf diesen Beschluss überfielen sieben arabische Staaten die jüdischen Siedlungen. Als die UNO einen Waffenstillstand erzwang, weigerten sich die Araber, Frieden zu schließen. Ich möchte darauf hinweisen, dass der jüdische Staat im Kampf gegen den britischen Imperialismus entstand, der alles dazu tat, um die Araber bei seinem Abzug zu begünstigen. Hingegen unterstützte die Sowjet-Union durch tschechoslowakische Waffenlieferungen das jüdische Volk. Die Araber haben niemals die Existenz des jüdischen Staates anerkannt und mit Terrorakten und Überfällen auf die Zivilbevölkerung, Israel immer wieder Schaden zuzufügen versucht. Seit 1948 haben alle arabischen Staatsmänner stets als das Ziel ihrer Politik die Auslöschung Israels, die Vernichtung oder Vertreibung der Juden erklärt. Kein Volk und kein Staat der Welt würde auf die Dauer einen solchen Zustand ertragen können, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen (…) Israel konnte sich seine Verbündeten nicht aussuchen im Gegensatz zu Nasser, der abwechselnd Vertrüge mit den verschiedenen Großmächten schloss und sich an den meistbietenden verkaufte. Russland hat niemals eine Verständigungsmöglichkeit mit Israel erstrebt, sondern seine Todfeinde mit Waffen beliefert, wie dies übrigens auch lange Zeit England und Amerika getan haben. Israel hat  immer und immer wieder durch seine führenden Staatsmänner seine Bereitschaft zu einer friedlichen Regelung erklärt und nicht unbeträchtliche Teile der jüdischen Arbeiterbewegung haben sich um eine Verständigung mit Russland und den sozialistischen und kommunistischen Kräften der Welt bemüht (…) Die Antwort Nassers dazu: „Wir wollen eine Entscheidungsschlacht, um den Bazillus Israel zu vernichten. Alle Araber wollen eine Entscheidungsschlacht.“ Und Schukeiri, der Führer der arabischen Flüchtlingsarmee drohte, dass kein Israeli diesen Krieg überleben würde. Die einzige Drohung, an deren Ernsthaftigkeit niemand zweifeln könnte, der erlebt hatte wie arabische Truppen hausten, wenn sie auf israelischem Gebiet sind. In Anbetracht dieses offen angedrohten Völkermordes und der systematisch an den Rand des Krieges getriebenen Bedrohung Israels ist es mir völlig unverständlich, wie internationale Sozialisten in ihrer Stellungnahme auch nur schwanken können.

Es geht mir nicht um Israel, das sich, wie die Ereignisse zeigen, selbst zu helfen wusste, es geht mir um euren Verrat allen wesentlichen Prinzipien des sozialistischen Humanismus.  Ihr habt damit nicht Israel geschadet, sondern dem moralischen Ansehen unserer Sache und die Glaubwürdigkeit Eures Kampfes gegen den Imperialismus an anderen Stellen der Welt in Frage gestellt. Ihr habt euch von breiten Massen der Linken isoliert und euch in den Ruf gebracht, nur dort gegen das Unrecht, gegen Terror und Krieg zu sein, wo es mit der russischen Linie übereinstimmt. Ich weiß, dass das für Dich und viele andere nicht so zutrifft aber ich habe für Menschen, die in Fragen des Völkermordes einen theoretischen und neutralen Standpunkt einnehmen, keine Sympathie. Habt ihr vergessen dass Israel nicht durch imperialistische Eroberung zustande gekommen ist, sondern als Antwort auf das Versagen der Völker, das jüdische Volk vor Massenvernichtung zu schützen? Wisst ihr nicht, dass in Israel sehr viel mehr Elemente des Sozialismus sind als in den arabischen Staaten? Beruht nicht gerade ein Teil des niedrigen Lebensstandards darauf, dass sie die riesigen Summen an Entwicklungshilfe, die sie bekommen, ganz überwiegend in die Aufrüstung ihrer Armeen mit dem Ziel der Vernichtung Israels gesteckt haben?

Weißt du nicht, dass Ägypten zahllosen Kriegsverbrechern Obdach gewährt und ihnen in seiner Armee und seiner Rüstungsproduktion bevorzugte Plätze einräumt? Weißt du nicht, dass diese progressiven Araber die Kommunisten in Folterlager stecken und gelegentlich einmal einige gegen hohe Rüstungslieferungen auf freien Fuß setzen? Ist Dir unbekannt, dass die progressive Baath-Partei im Irak zehntausende Kommunisten in der gleichen sadistischen Weise niedergemetzelt haben, mit der sie in Israel vorzugehen beabsichtigten? Die israelische Regierung hatte dem russischen Botschafter angeboten, sich an der syrischen Grenze durch persönlichen Augenschein zu überzeugen, ob dort irgendetwas von Kriegsvorbereitungen gegen Syrien festzustellen sei. Er hat dies abgelehnt, weil er die schöne Propaganda-Legende zum Aufmarsch der arabischen Armeen nicht zerstören durfte. Solle Israel wirklich warten, bis es durch Ägyptens Langstreckenraketen vernichtet würde? Verlangt Ihr von den Überlebenden des Nazi-Gemetzels, dass sie sich um den hehren Prinzipien des antiimperialistischen Kampfes willen ein zweites Mal wehrlos hinschlachten lassen?  Jedenfalls lief Eure Politik genau darauf hinaus (…)
Wenn es Ägypten darum zu tun war, gegen einen angeblichen israelischen Angriff geschützt zu werden, hätte ihm nichts erwünschter sein dürfen, als eine Verwicklung der UNO-Truppen in diesen Kampf. Es gehört zu den Unbegreiflichkeiten des von Dir vertretenen Standpunktes, hier formaljuristisch zu argumentieren, wenn es sich um Krieg und Frieden handelt, um Tod und Leben eines Volkes (…)

Ebenso formaljuristisch ist Deine Stellungnahme zur Frage des Präventivkrieges. Wenn ich jemanden, der mir die Gurgel zudrückt, mit der Faust niederschlage, bin ich nicht der Angreifer, sondern handele in Notwehr. Es gab auf der arabischen Seite niemals auch nur eine Stimme, die zu Verhandlungen und Kompromissen bereit gewesen wäre. Eure Aufgabe wäre es gewesen, ein positives Programm zur Lösung der Probleme im Nahen Osten zu entwerfen. Ich glaube nicht, daß ein Sozialist etwa anderes fordern könnte, als die Anerkennung des Lebensrechtes aller Völker und Staaten, die Unversehrtheit ihrer Grenzen, den Schutz vor dem Einfall von Terrorbanden, den freien Zugang zu allen Weltmeeren, sowie den Verzicht auf alle Kriegsdrohungen. Freilich hättet ihr euch damit sofort die Feindschaft der Araber zugezogen. Darf Euch das abhalten, nicht für einen Staat, sondern für die selbstverständlichen Grundlagen der internationalen Koexistenz einzutreten? Es ist nett, dass Du die nationalistische Hysterie Schukeiris (und Nassers?) nicht tolerierbar findest (..) Ihr erschwert es den Israelis damit immer mehr, sich von der Hilfe imperialistischer Staaten unabhängig zu machen. Wer in Lebensgefahr ist, wählt sich seine Verbündeten nicht unter denen, die ihn ins Wasser stoßen wollen.

Niemand verlangt eine einseitige Identifikation des Internationalen Sozialismus mit der israelischen Politik, aber ich dachte, dass eine eindeutige Stellungnahme gegen Chauvinismus und Kriegshetzerei der Araber, gegen deren bedingungslose Aufrüstung durch die Sowjet-Union und für ein Programm der Verständigung mit deren Grundsätzen durchaus vereinbar sei. Ich bin der Meinung, dass es für Sozialisten auch in der Politik einen Grundbestand an moralischen Prinzipien gibt, die man nicht ungestraft verletzen darf. Ich bedauere deshalb die Haltung des SDS und Deine Stellungnahme aufs Tiefste und glaube, dass sie unserer Sache schweren Abbruch zuzufügen geeignet ist.

Dieser Brief von Berthold Simonsohn ist beinahe fünfzig Jahre alt und doch hat er nichts von seiner Aktualität verloren. Die Kritik an der ideologischen Verwahrlosung großer Teile der Linken, die einerseits Israel deligitimieren und dämonisieren und andererseits die Reden und Taten der antisemitischen Islamisten verharmlosen oder ignorieren,  ist ebenso in diesem Antwortbrief, wie die Erkenntnisresistenz eben dieser Linken in dem Ausgangsbrief von Abendroth angelegt. Es waren linke Juden wie Jean Améry, Michael Landmann oder Berthold Simonsohn, die versuchten ihrer mehr oder weniger ignoranten und geschichtsvergessenen Umgebung sehr geduldig und mit eindeutigen nicht widerlegbaren Argumenten den Nahostkonflikt zu erklärten. Die einsamen jüdischen linken Rufer forderten (meist vergebens) Solidarität für Israel, zeigten (meist vergeblich) wie reaktionär, frauenfeindlich, mittelalterlich und inhuman die Gegner Israels sind. Der „Verrat allen wesentlichen Prinzipien des sozialistischen Humanismus“ ist bis heute beinahe täglich in sogenannten linken oder linksliberalen Tages- und Wochenzeitungen, in den Aussagen diverser Politiker der Linkspartei oder Gewerkschaften und bei vielen „Marschierern durch die Institutionen“ zu bestaunen.

Die Lebensbedingungen im Ghetto Theresienstadt und den Konzentrationslagern waren für seine Gesundheit nicht folgenlos geblieben. Er plante noch eine „Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland“ zu schreiben.Dieses Vorhaben konnte er nicht mehr realisieren. Berthold Simonsohn starb am 8. Januar 1978 in Frankfurt an Herzversagen.

Quelle: Wilma Aden-Grossmann – Berthold Simonsohn: Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen (1912-1978) – Campus Verlag

4 Kommentare leave one →
  1. nussknacker56 permalink
    4. Januar 2015 22:41

    Es sind hervorragende Texte wie dieser, die mich immer wieder gerne auf „Mission Impossible“ klicken bzw. zurückkehren lassen. Dem Autor ein Danke dafür. Insgesamt schätze ich hier das allgemeine Niveau der Blog-Beiträge, selbst die Kommentare sind meist über dem üblichen Durchschnitt. Auch dafür ein Danke.

    In einer Zeit, in der intellektuelle Redlichkeit immer mehr in die Bedeutungslosigkeit zu versinken scheint und durch opportunistische Kumpanei ersetzt wird, ist das (für mich) viel wert. Und immer, wenn mich die Frustration packt, ich mir wie ein Fossil vorkomme, dessen Positionen und Schlussfolgerungen nicht nur im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis von so gut wie niemandem geteilt werden, und somit gelegentlich den Verdacht nahelegen, sich in sektiererhaften Ansichten verrannt zu haben, hilft u.a. ein Besuch hier, den Kopf wieder etwas durchzulüften und die eigene Positionierung als keineswegs unbegründet zu reflektieren.

    Gefällt 2 Personen

    • 5. Januar 2015 11:48

      Vielen Dank für den freundlichen Kommentar! Es sind Kommentare wie der ihre und Rückmeldungen anderer Art die immer wieder motivieren hier weiterzumachen.

      Die Kommentare von üblen Antizionisten und Antisemiten, oftmals aus dem Umfeld einer Berliner Wochenzeitung, wurden nach und nach immer mehr zensiert, so dass diese Leute keine Lust mehr hatten hier zu kommentieren, was den Aufwand für diesen Blog naturgemäß erheblich erleichterte.

      Nun gibt es „Mission Impossible“ schon im fünften Jahr und obwohl es mir genauso geht, dass ich über die Ansichten meiner Mitmenschen oft verzweifle, deren intellektuelle Redlichkeit meist gegen Null tendiert, habe ich doch den Eindruck, dass es mittlerweile mehr Menschen gibt als vor fünf Jahren, die den Charakter von Hamas und Hisbollah realistisch einschätzen und das Recht Israels auf seine Verteidigung artikulieren.

      Unabhängig davon hat der Antisemitismus und der Antizionismus der rechten und linken Ränder längst in der bürgerliche Mitte Einzug gehalten. Die Anti-Israel- Demonstrationen des Jahres 2014 mit Slogans wie „Jude Jude feiges Schwein komm heraus und kämpf allein“ und die fehlende Reaktion des Staates, sowie die entsprechende Verharmlosung dieser Vorgänge in den Medien belegen neben den islamistischen Verwerfungen im Nahen Osten, dass es falscher den je wäre über diese Entwicklungen zu schweigen.

      Mit besten Grüßen
      Manfred Breitenberger (Bloggernamen fidelche & thinktankboy)

      Gefällt 1 Person

  2. 5. Januar 2015 17:51

    Der Brief von Berthold Simonsohn hat wahrlich nichts von seiner Aktualität verloren. Schönen Dank auch von mir für diesen fabelhaften Beitrag.

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  3. Paul Held permalink
    28. Januar 2015 10:08

    Gestern in 3sat gesehen. Ein kurzer Beotrag über Trude Simonsohn. Leider kein Wort von ihrem Mann. Darum vielen Dank für das Gedenken an ihn.

    http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=49026

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