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Jean Améry und der ehrbare Antisemitismus

amery1Wenn ich mit Bekannten, welche aus Linksparteimitgliedern, Gewerkschaftlern, Pädagogen, Friedensbewegten und Antifaschisten bestehen, über das Thema Israel diskutiere läuft es immer darauf hinaus, dass meine Diskussionspartner den Staat Israel verurteilen und ich den Staat Israel verteidige. Dabei diagnostiziere ich oft, teilweise extremen, Antisemitismus, welcher im Gewand von vermeintlich „ehrbarem“ Antizionismus gereicht wird. Ich stelle mir dann die Frage warum ich offensichtlich für Antizionismus/Antisemitismus nie anfällig war, meine vermeintlich linken Gegenüber aber voll im Mainstream schwimmen. Ich glaube dass ein kleines Büchlein, welches mir vor ungefähr dreißig Jahren zufällig in die Hände fiel, ausschlaggebend für diesen Umstand ist. Es hieß „Widersprüche“ und enthielt unter anderem den Essay „Der ehrbare Antisemitismus“ von Jean Améry.

Geboren wurde Jean Améry als Hans Mayer am 31. Oktober 1912 in Wien. Er war der Sohn eines jüdischen Vaters, der nie in der Synagoge war, der im ersten Weltkrieg fiel und einer katholischen Mutter. Bis zum “Anschluss” Österreichs an das “Dritte Reich” 1938 lebte Améry, der sich bis dahin nicht als Jude fühlte, als intellektueller Agnostiker und Bohemien. Die „Nürnberger Gesetze“ machten ihn zum Juden. Als seine Mutter wieder heiratete hätte er seinen jüdischen Vorfahren verheimlichen können, da sein neuer katholischer Stiefvater im „Amt“ arbeitete. Zu dem Zeitpunkt hatte er allerdings eine jüdische Freundin. Er entschied sich für die Freundin und die Flucht aus Österreich, schloss sich dem kommunistischen Widerstand in Frankreich und Belgien an. Am 23. Juli 1943 wurde Jean Améry beim Verteilen von antinazistischen Flugblättern verhaftet. In einem belgisches Gestapo-Gefängnis entdeckte man seine jüdische Abstammung. Hier wird er von der Gestapo bestialisch gefoltert. Die Tortur beschreibt er unter anderem in seinem Buch „Jenseits von Schuld und Sühne“. Améry wird nach Auschwitz deportiert, später nach Buchenwald und Bergen-Belsen. Seine Auschwitznummer 172 364, schrieb er einst, lese sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gebe zudem gründlicher als diese Auskunft über eine jüdische Existenz. Am 17. Oktober 1978 wählt er den Freitod mittels Schlaftabletten in Salzburg. Im Jahr 1969 schreibt Amérys den Essay „Der ehrbare Antisemitismus“ und setzt sich darin mit dem Verhältnis der Linken zum Staat Israel auseinander. Die Aktualität ist erschreckend und zugleich faszinierend.

Jean Améry  – Der ehrbare Antisemitismus (1969)

De Gaulle fiel. Manch einem war trüb zumut wie einem Heineschen Grenadier; mir auch, mir auch. Nur leider, dass in New York dem französischen UNO-Delegierten Armand Bérard nichts besseres einfiel, als verzweifelt auszurufen (laut “Nouvel Observateur” vom 5.Mai): “C’est l’or juif!” Und kein Dementi. Rechter Hand, linker Hand alles vertauscht. Der Antisemitismus schafft’s und, wie es einst bei Stefan George hieß: “… er reißt in den Ring.” Das klassische Phänomen des Antisemitismus nimmt aktuelle Gestalt an. Der alte besteht weiter, das nenn ich mir Koexistenz. Was war, das blieb und wird bleiben: der krummnasige, krummbeinige Jude, der vor irgendwas – was sag ich? – der vor allem davonläuft. So ist er auch zu sehen auf den Affichen und in den Pamphleten der arabischen Propaganda, an der angeblich braune Herren deutscher Muttersprache von einst, wohlkaschiert hinter arabischen Namen, mit kassieren sollen. Die neuen Vorstellungen aber taten auf die Szene gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg und setzen langsamerhand sich durch: der israelische Unterdrücker, die mit dem ehernen Tritt römischer Legionen friedliches palästinensisches Land zerstampft. Anti-Israelismus, Anti-Zionismus in reinstem Vernehmen mit dem Antisemitismus von dazumal. Der ehern tretende Unterdrücker- Legionäer und der krummbeinige Davonläufer stören einander nicht. Wie sich endlich die Bilder gleichen! Doch neu ist in der Tat die Ansiedlung des als Anti-Israelismus sich gerierenden Antisemitismus auf der Linken. Einst war das der Sozialismus der dummen Kerle. Heute steht er im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden, und so macht jeder Sozialist sich selber freien Willens zum dummen Kerl. Den Prozeß kann man nutzbringend nachlesen in dem schon vor mehr als einem Jahr in Frankreich bei Pauvert erschienenen Buch “La Gauche contre Israel” von Givet. Es genügt aber auch, gewisse Wegmarken zu erkennen, beispielsweise eine in der Zeitschrift “konkret” erschienene Reportage zu lesen: “Die dritte Front”. “Ist Israel ein Polizeistaat?” heißt da ein Zwischentitel. Die Frage ist nur rhetorisch. Natürlich ist Israel das. Und Napalm und gesprengte Häuser friedlicher arabischer Bauern und Araber-Pogrome in den Straßen von Jerusalem. Man kennt sich aus. Es ist wie in Vietnam oder wie es einstens in Algerien war. Der krummbeinige Davonläufer nimmt sich ganz natürlich aus als Schrecken verbreitender Goliath. Es ist von der Linken die Rede und keineswegs nur von den noch mehr oder minder orthodoxen kommunistischen Parteien im Westen oder gar von der Politik der Staaten des Sozialistischen Lagers. Für diese gehört der Anti-Israelismus, aufgepfropft auf den traditionellen Antisemitismus der slawischen Voelker, ganz einfach zur Strategie und Taktik einer so und so gegebenen politischen Konstellation. Die Sterne lügen nicht, die Gomulkas wissen, worauf sie rechnen dürfen. *C’est de bonneguerre!* Darüber ist kein Wort zu verlieren. Schlimmer ist, dass die intellektuelle Linke, die sich frei weiß von Parteibindungen, das Bild übernimmt. Jahrelang hat man – um einmal von Deutschland zu reden – den israelischen Wehrbauern gefeiert und die feschen Mädchen in Uniform. In schlechter Währung wurden gewisse Schuldgefühle abgetragen. Das musste langweilig werden. Ein Glück, dass für einmal der Jude nicht verbrannt wurde, sondern als herrischer Sieger dastand, als Besatzer. Napalm und so weiter. Ein Aufatmen ging durchs Land. Jedermann konnte reden wie die “Deutsche National- und Soldatenzeitung”; wer links stand, war befähigt, noch den Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren. Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden, dann heißt das “Verbrecherstaat Israel”. Er kann es auf manierliche Art machen und vom “Brückenkopf des Imperialismus” sprechen, dabei so nebstbei allenfalls in bedauerndem Tonfall hinweisen auf die missverstandene Solidarität, die so ziemlich alle Juden, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, an den Zwergstaat bindet, und kann es empörend finden, daß der Pariser Baron Rothschild die Israel-Spenden der französischen Bevölkerung Frankreichs als eine Steuer einfordert. Der Antisemitismus hat es leicht allerwegen. Die emotionelle Infrastruktur ist da, und das keineswegs nur in Polen oder Ungarn. Der Antisemit “de mystifiziert” den Pionierstaat mit Wohlbehagen. Es fällt ihm ein, dass hinter dieser staatlichen Schöpfung immer schon der Kapitalismus stand in Form der jüdischen Plutokratie: Auf diese letztgenannte geht er nicht ausdrücklich ein, das wäre ein ideologischer *lapsus linguae,* jedoch – *c’est l’or juif!* – niemand wird sich täuschen über die tatsächliche Bestelltheit eines Landes, das aus einer schlechten Idee geboren, am schlechten Orte errichtet, einen oder mehrere schlechte Kriege geführt und Siege erfochten hat. Missverständnisse sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich weiß so gut wie irgendwer und jedermann, dass Israel objektiv die unerfreuliche Rolle der Besatzungsmacht trägt. Alles zu justifizieren, was die diversen Regierungen Israels unternehmen, fällt mir nicht ein. Meine persönlichen Beziehungen zu diesem Land, von dem Thomas Mann in der Josefs-Tetralogie gesagt hat, es sei ein “Mittelmeer-Land, nicht gerade heimatlich, etwas staubig und steinig”, sind quasi null: Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht, seine Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd, seine Religion ist nicht die meine. Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen. Und hiermit gelangen wir an den Punkt, wo es ein Ende hat mit jeder berichtenden oder analysierenden Objektivität und wo das Engagement keine freiwillig eingegangene Verbindlichkeit ist, sondern eine Sache der Existenz, das Wort in mancherlei Bedeutung verstanden. Über Israel, den modischen Anti-Israelismus, den altmodischen, aber stets in jegliche Mode sich wieder einschleichenden Antisemitismus spricht existentiell subjektiv, wer irgendwie “dazugehört” (“Juden, Personen, die im Sinne des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 als Juden gelten”) – und erreicht am Ende vielleicht gerade darum eine Objektivität annähernd naturrechtlichen Charakters. Denn schließlich mündet noch die geistesschlichteste – genauso wie die gründlichste und gescheiteste – Überlegung in die Erkenntnis, dass dieses Pionierland, und mag es hundertmal nach einer sich pervertierenden pseudomarxistischen Theologie im Sündenstande technischer Hochentwicklung sich befinden, unter allen Staaten dieses geopolitischen Raumes das gefährdetste ist. Sieg, Sieg und nochmals Sieg: Es droht die Katastrophe, und ihr weicht man auch nicht aus, indem man direkt in sie hineinrennt und Israel zum Teilgebiet einer palästinensischen Föderation macht.

Die arabischen Staaten, denen ich Glück und Frieden wünsche, werden den israelischen Entwicklungsvorsprung einholen, irgendeinmal. Ihr demographischer Überdruck wird das übrige tun. Es geht unter allen Umständen darum, den Staat Israel zu erhalten, so lange, bis Frieden, wirtschaftlicher und technischer Vorausgang der Araber in einen allgemeinen Gemütszustand versetzen, der ihnen die Anerkennung Israels innerhalb gesicherter Grenzen gestattet. Es geht darum. Wem? Die subjektive Verfassung, die zur geschichtlichen Objektivität werden will, hat hier ihre Dreinrede. Israels Bestand ist unerlässlich für alle Juden (“Juden, Personen, die im Sinne …” und so weiter), wo immer sie wohnen mögen. “Wird man mich zwingen, Johnson hochleben zu lassen? Ich bin bereit dazu”, rief am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges der linksradikale französische Publizist und Sartre-Schüler Claude Lanzmann. Der wusste, was er meinte und wollte. Denn jeder Jude ist der “Katastrophen-Jude”, einem katastrophalen Schicksal ausgeliefert, ob er es erfaßt oder nicht. “Lauf, blasser Jude” schreiben die Black-Panther-Männer an die Geschäfte und Häuser jüdischer Händler in Harlem und vergessen leichten Herzens die alte Allianz, die in den USA den Juden an den Neger kettete und die noch der mieseste bürgerlich-jüdische Händler nicht verriet. Wer garantiert, dass nicht einmal eine Regierung in den Vereinigten Staaten zum großen Versöhnungsfest den Juden dem Neger zum Frass hinwirft? Wer verbürgt den einflussreichen und zum Teil reichen Juden Frankreichs, dass nicht eines Tages das Erbe der Drumont, Maurras, Xavier Vallat zu neuer Virulenz gelangt? Wer steht ein dafür, dass nicht Herrn Strauß, an die Macht gekommen, irgendwas einfällt, worauf dann auch ein gewisser Zeitungs-Tycoon sich hüten würde, weitere schnöde Spenden einer schnöde zur Annahme bereiten israelischen Regierung zu geben? Niemand garantiert nichts. Das ist keine paranoide Phantasie und ist mehr als die menschliche Grundverfassung der Gefahr. Die Vergangenheit, die allerjüngste, brennt. Und nun wird jeder Freund von der Linken mir sagen, auch ich reihte mich ein in die große Armee derer, die mit sechs Millionen (oder meinetwegen fünfen oder vieren) Ermordeter Meinungserpressung treiben. Das Risiko ist einzugehen: Es ist geringer als das andere, welches die Freunde mir proponieren, wenn sie für die Selbstaufgabe des “zionistischen” Israel plädieren. Die Forderung der praktisch-politischen Vernunft geht dahin, dass die Solidarität einer Linken, die sich nicht preisgeben will (ohne dass sie dabei das unerträgliche Schicksal der arabischen Flüchtlinge ignorieren muss), sich auf Israel zu erstrecken, ja, sich um Israel zu konzentrieren hat. Das Gebot hat für den nichtjüdischen Mann der Linken nicht die gleiche Verbindlichkeit wie für Juden, stehe dieser politisch links, mittwegs, rechts oder nirgendwo. Aus der Linken kann man austreten; das Sosein als Jude entlässt niemand, das wusste schon ein Früh-Antisemit wie Lanz-Liebenfels. Freilich hat die Linke ihre ungeschriebenen moralischen Gesetze, die sie nicht beugen darf. “Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite des Schwächeren”, welch unüberschreitbar wahre Trivialität! Und stärker – wer wagte Widerrede? – das sind die Araber; stärker an Zahl, stärker an Öl, stärker an Dollars, man frage doch bei der Aramco und in Kuwait nach, stärker, ganz gewiss, an Zukunftspotential. Die Linke aber ganz offensichtlich schaut wie gebannt auf die tapferen palästinensischen Partisanen, die freilich ärmer sind als die Männer Moshe Dayans. Sie sieht nicht, daß trotz Rothschild und einem wohlhabenden amerikanisch-jüdischen Mittelstand der Jude immer noch schlechter dran ist als Frantz Fanons Kolonisierter, sieht das so wenig wie das Phänomen des anti-imperialistischen jüdischen Freiheitskampfes, der gegen England ausgefochten wurde. Am Ende ist es auch nicht die Schuld der Israelis, wenn die Sowjetunion vergaß, was 1948 vor der UNO Gromyko mit schönem Vibrato vorgetragen hat: “Was den jüdischen Staat betrifft, so ist seine Existenz bereits ein Faktum, das gefalle oder nicht (…) Die Delegation der UdSSR kann sich nicht enthalten, ihr Erstaunen über die Einstellung der arabischen Staaten in der palästinensischen Frage auszudrücken. Ganz besonders sind wir überrascht zu sehen, daß diese Staaten oder zumindest einige von ihnen sich entschlossen haben, militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten. Wir können die vitalen Interessen der Völker des Nahen Ostens nicht identifizieren mit den Erklärungen gewisser arabischer Politiker und arabischer Regierungen, deren Zeugen wir jetzt sind.”

So sprach, wie schon gesagt, die Sowjetunion, eine Großmacht, die Großmachtpolitik treibt und die wohl à la longue nicht absehen konnte von dem offenbaren Faktum, dass es mehr Araber gibt als Juden, mehr arabisches Öl als jüdisches, dass militärische Stützpunkte in den arabischen Staaten einen höheren strategischen Wert haben als in Israel. Die Linke im weiteren und weitesten Sinne aber, und ganz besonders die protestierende äußerste Linke, der ich mich auf weiten Stecken verbunden weiß, hat diese Großmacht-Ausflucht nicht. Sie ist, nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, zur Einsicht verpflichtet; zur Einsicht in die tragische Schwäche des jüdischen Staates und jedes einzelnen Juden in der Diaspora, zur Einsicht in das, was hinter den Kulissen eines jüdisch-bürgerlichen Mittelstandes, hinter dem Mythos des Geld- und Gold-Juden (vom Jud Süß bis zu den kontemporären Rothschilds und ein paar jüdischen Hollywood-Größen) sich verbirgt. Die Juden manipulieren zeitweilig Kapitalien: Sie beherrschen sie niemals. Sie haben heute in Wall Street so wenig zu sagen wie einst im wilhelminischen Deutschland in der Schwerindustrie. Der Staat Israel ist heute so wenig ein Bollwerk des Kapitalismus, wie er es war, als die ersten Pioniere dort den Boden umgruben, so wenig wie die arabischen Staaten vernünftigerweise als progressiv angesehen werden können. Die Linke macht, das ist der Jammer, die Augen zu. Der Zufall spielte mir gerade einen Text von Hans Blüher zu: “Eine wirkliche Geschichte Europas dürfte nicht so geschrieben werden, wie das bisher geschah, dass nämlich ein Jude einmal hie und da anekdotenhaft vorkommt …, vielmehr müsste die Darstellung so sein, dass dauernd die geschichtliche Macht des Judentums als eines latenten und ständig mitspielenden Reiches sichtbar wird.” Der Text könnte wörtlich in einer der zahlreichen pseudointellektuellen arabischen Veröffentlichungen stehen, mit denen die Presse überschwemmt wird. Und von Blüher – aber auch von Streicher, denn allerwegen ebnet der Antisemitismus die intellektuellen Höhenunterschiede ein – könnte stammen, was der Unterrichtsminister des progressiven Staates Syrien an den Generaldirektor der UNESCO schrieb: “Der Haß, den wir unseren Kindern einprägen, ist ein heiliger Hass.” Es wäre das alles kaum der Aufnotierung wert, und der närrische Blüher könnte im Frieden des Vergessens schlafen, hätte nicht die intellektuelle Linke Westeuropas (einschließlich übrigens einiger vom Selbsthass verstümmelter Juden wie Maxim Rodinson) sich dieses Vokabulars bemächtigt und das vom Wortschatz vermittelte Normensystem angenommen. Wenn aus dem geschichtlichen Verhängnis der Juden- beziehungsweise Antisemitenfrage, zu dem durchaus auch die Stiftung des nun einmal bestehenden Staates Israel gehören mag, wiederum die Idee einer jüdischen Schuld konstruiert wird, dann trägt hierfür die Verantwortung eine Linke, die sich selber vergißt. “Der Antizionismus ist ein von Grund auf reaktionäres Phänomen, das von den revolutionären progressistischen antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird”, sagte neulich Robert Misrahi, ein französischer Philosoph, der, gleich dem vorhin zitierten Claude Lanzmann, zur weiteren Sartre-Familie gehört. Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen Selbstbestreitung der Linken ist gekommen; denn sie ist es, die dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit zurückgibt. Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist, um in der vom Thema erzwungenen Terminologie zu bleiben. Leute wie der polnische General Moczar können sich die Umfälschung des kruden Antisemitismus zum aktuellen Anti-Israelismus gestatten: Die Linke muss redlicher sein. Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus. Wie sagte Sartre vor Jahr und Tag in seinen “Überlegungen zur Judenfrage”: “Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden.”

 

von Manfred Breitenberger im März 2012

Erstveröffentlichung im Februar 2010 in  Die Linke, Israel, Jean Améry und der ehrbare Antisemitismus

siehe auch:  Jean Améry – Jenseits von Schuld und Sühne

23 Kommentare leave one →
  1. 19. März 2012 13:24

    Der deutsche SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat kürzlich Israel mit einem Apartheidstaat verglichen und hat mit dieser Aussage am antisemitischen Spießer-Stammtisch platzgenommen. Felix Riedel schreibt über den aparten Genossen:

    “Gabriel unternimmt eine Differenzierung zwischen Israel als “Apartheid” und Deutschland als “Nicht-Apartheid”, dem es unter der nicht gegebenen Voraussetzung eines israelischen rassistischem Regime dann zustünde, dieses moralisch zu verurteilen. Diese Behauptung eines “besseren” Deutschlands oder zumindest eines “besseren” Genossen Sigmar Gabriels entlarvt sein wahltaktisches Gestänker gegen Israel als primitive Projektion eigener Befindlichkeiten, gegen die nicht einmal die Lage in Hebron diskutiert werden müsste.“

    Weiterlesen hier: Der aparte Genosse

    Gerd Buurmann schreibt auf „TapferimNirgendwo“ zu Gabriels Apartheidsvergleich:“

    „Es ist somit eine Dreistigkeit zu behaupten, Israel sei ein Regime der Apartheid. Der Apartheidvergleich ist so dreist, bitter und gemein, wie die Behauptung, die erfundenen Protokolle der Weisen von Zion seien eine tatsächlich vorhandene jüdische Verhaltensweise. Noch heute müssen diese erfundenen Protokolle bei Antisemiten aller Schattierungen als Beweis für das angebliche Streben aller Juden nach der Weltherrschaft herhalten, wie dieser ZDF-Beitrag beweist.“

    Weiterlesen hier: Sigmar Gabriels Entschuldigung

    Wie sagte Sartre vor Jahr und Tag in seinen “Überlegungen zur Judenfrage”: “Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden.”

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    • 19. März 2012 16:22

      „Eingriffe“ und „einsprüche“ – wo auch sonst das „Jenseits zu Heimat“.

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    • Jackson permalink
      19. März 2012 17:20

      „Gabriel bricht jedoch mit seiner Facebook-Meldung und der Verwendung des infamen Apartheidsbegriffs ein Tabu. Kein führender Politiker der großen Parteien hat dieses Wort je in Verbindung mit Israel verwendet und aus gutem Grund. Denn die Nebeneinanderstellung von Israel und Apartheid soll Israel als rassistisches und unmoralisches Regime delegitimieren, ihm sein Existenzrecht streitig machen. Palästinenser in Hebron unterliegen Verboten und Einschränkungen, nicht weil die israelische Regierung denkt, dass sie einer minderwertigen Rassen angehören würden, sondern aus Sicherheitsabwägungen, die aus den gerade skizzierten Vorfällen resultieren. Wer fordert, Palästinenser hätten ein Recht darauf, in Ost-Jerusalem oder Jaffa zu leben, der muss erklären, warum Juden nicht in Hebron leben sollen. (Kevin Ždiara )

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      • 19. März 2012 19:32

        Das möchte ich ausdrücklich unterschreiben. –
        ‚Normalerweise‘ sollte es unverständlich sein, daß solche Formulierungen von Gabriel, und die vielen ähnlichen, ohne Protest in einer verfassungsgestützten Gesellschaft durchgehen. Aber deshalb gibt es ja die ideale Verfassung: um das Kopfstehen der Realgesellschaft zu verewigen!

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    • 19. März 2012 22:06

      „Anti-Israelismus, Anti-Zionismus in reinstem Vernehmen mit dem Antisemitismus von dazumal. Der ehern tretende Unterdrücker- Legionäer und der krummbeinige Davonläufer stören einander nicht. Wie sich endlich die Bilder gleichen! Doch neu ist in der Tat die Ansiedlung des als Anti-Israelismus sich gerierenden Antisemitismus auf der Linken. Einst war das der Sozialismus der dummen Kerle.“

      1893 hielt August Bebel unter dem Titel „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ dem Kölner Parteitag eine Grundsatzrede. 1913 starb August Bebel. Zwischen August Bebel und Sigmar Gabriel liegen über hundert Jahre. Links war die SPD in diesen hundert Jahren selten: Der Vorsitzende der SPD hat nun ein neues Kapitel aufgeschlagen, im Sozialismus der dummen Kerle.

      „Es sind die übli­chen Ver­däch­ti­gen, die nun beigeis­tert zustim­men. Im anti-israelischen Web­log „Die Frei­heits­liebe” wird der Sozi­al­de­mo­krat zustim­mend zitiert und ein „Recht” auf Israel-Kritik ein­ge­for­dert. In der Facebook-Gruppe „Stoppt den BAK Shalom”, in der sich Anti­se­mi­ten wie Chris Sedl­mair und andere Gesin­nungs­ge­nos­sen tref­fen, um gegen israel-solidarische Linke, Beate Klars­feld und Israel zu het­zen, wer­den die Ein­las­sun­gen des Sieg­mar Gabriel eben­falls zustim­mend zitiert. Ihm drohe „bei Wider­ho­lung” das Schick­sal eines Möl­le­mann, behaup­tet Sedl­mair im ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Wahn. Die anti-israelische Phrase vom „Apartheid-Regime” wird seit Jah­ren in die­sem ganz beson­ders anti-israelischen Milieu benutzt.“, schreibt Reflexion in „Der Hetzer

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      • 19. März 2012 23:33

        „Links war die SPD in diesen hundert Jahren selten“: tja, zustimmend: sie war aber Alles, für was „Das Versäumte“ der Negativen Dialektik Adornos steht. Ein tatig/untätig gewordenes Nichts also.

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  2. 20. März 2012 06:02

    „Wer fordert, Palästinenser hätten ein Recht darauf, in Ost-Jerusalem oder Jaffa zu leben, der muss erklären, warum Juden nicht in Hebron leben sollen.“

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    • 20. März 2012 15:01

      Auf diese Erklärung müssen wir lange warten, befürchte ich.

      Über Gabriels Dschihad schreibt Kevin Zdiara außerdem:

      „Die zweite Möglichkeit, die offensichtlich Sigmar Gabriel und seine deutschen Gesinnungsgenossen präferieren, wäre, die Juden verschwinden aus Hebron. Das wäre sicherlich machbar, aber moralisch und historisch fragwürdig. Denn warum sollen Juden zum vierten Mal (die anderen Male waren 1929, 1936 und 1948) vollständig aus Hebron verschwinden? Dort befindet sich der zweitheiligste Ort des Judentums und bis 1929 lebten Juden über Jahrhunderte relativ friedlich in dieser Stadt. Juden können sich in den von der PA kontrollierten Vierteln von Hebron nicht ohne israelisches Militär bewegen, Palästinensern hingegen zumindest eingeschränkt in denen von Israel verwalteten Bereichen. Beides ist nicht perfekt, aber solange die palästinensische Gesellschaft in weiten Teilen davon überzeugt ist, dass Juden „Affen“, „Schweine“ oder „Bazillen“ und nicht Menschen sind, wird es so bleiben. “

      http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/gabriels_dschihad/

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